Samstag, 8. Juni 2019

Tag 14: Von Bar (Montenegro) nach Tirana (Albanien)

Die Nacht in meinem 4-Sterne Hotel war spitze. Zumindest schlafe ich noch tief, als der Wecker klingelt. Trotzdem rappele ich mich schnell auf - ich möchte heute nicht so spät ankommen. Also schnell Morgenroutine und los. Über kleinere Straßen verlassen wir Bar in Richtung Südosten. Ich bin überrascht, dass mir insgesamt 3 andere Radreisende auf den ca. 30 km nach Albanien entgegen kommen - es scheint eine beliebte Route zu sein. Irgendwo in einem Café sehe ich auch tatsächlich die beiden Münchner von gestern mit ihren Rennrädern. War klar, dass die beiden vor mir loskommen... Dieser südliche Teil von Montenegro scheint stark muslimisch geprägt zu sein - ich sehe keine christlichen Kirchen mehr, sondern nur noch Moscheen - von einer ruft auch gerade der Muezzin - und muslimische Friedhöfe. Die Grabsteine sehen dort irgendwie anders aus, säulenförmig. Es ist inzwischen auch viel ländlicher, als die Touristenküste von Herceg Novi bis Bar - eine andere Welt.




Irgendwann taucht aus dem Nichts die Grenze vor uns auf. Mit zwei ca. 60 m langen Autoschlangen, die sich nicht erkennbar bewegen. Ich stelle mich auf längeres Warten ein, als ein rauchender Typ meines Alters auf Argos und mich zeigt und anschließend Schlangenbewegungen mit der Hand in Richtung Schlagbaum macht. "Really?", frage ich. Nicken. "Are you sure?". Er macht eine Handbewegung, die ich als "Na los jetzt" deute. Na gut, dann ist vordrängeln angesagt. Es beschwert sich tatsächlich niemand und die Grenzbeamten lassen mich anstandslos passieren - und auf einmal bin ich wirklich in Albanien. Albanien, einer der letzten weißen Flecken auf der Weltkarte so vieler weitgereister Westeuropäer. Ich übergebe Argos die Kontrolle, trete nur noch locker mit und sauge alles, was ich irgendwie sensorisch erfassen kann, in mich auf. Meine erste Kurzanalyse nach einer halben Stunde: Es sieht eigentlich alles genauso aus, wie auf der anderen Seite der Grenze. Oder auch, wie wenn man in Griechenland über das Land fährt. Was hatte ich auch erwartet? Lehmhütten mit Strohdächern? Ich schäme mich ein bisschen. Argos fährt uns weiter, wieder über ziemlich einsame einspurige Landstraßen, die sich zwischen Feldern hindurchschlängeln. In einer Kurve stehen plötzlich 2 Typen, Anfang 20 auf der Straße. "Das war's", denke ich, "sie werden mich ausrauben und ordentlich verhauen - wenn es gut läuft.". Als ich vorbeifahre grüßen die beiden mich mit einem lässigen "Hey Bro" - völlig überrumpelt vom Ausbleiben eines Angriffs muss ich mich sehr beeilen, noch schnell ein schüchternes "Hey" heraus zu bekommen. Jetzt schäme ich mich wirklich. Es gibt doch einige Unterschiede zwischen Albanien und dem restlichen Balkan, vielleicht der restlichen Welt: Die Menschen grüßen tatsächlich alle, unabhängig von Alter oder Geschlecht. Von nun an winke ich fast allen zu und lächle dabei, und die selbe Reaktion kommt prompt zurück. Die Autofahrer nehmen sehr viel Rücksicht auf Radfahrer, überholen mit Abstand und wenn es keinen Platz gibt, warten sie sogar kurz. Wenn sie beim überholen hupen, dann wirklich aus ausreichender Entfernung, um einen zu warnen und nicht wie in Deutschland, wo sie z.T. in dem Moment hupen, wenn sie gerade einen halben Meter neben einem sind, als ob sie einen von der Straße pusten wollten, und dabei RADWEG brüllen, obwohl man mit 30 durch die 30-er Zone fährt... Vielleicht ist man in Albanien noch eher langsamere Verkehrsteilnehmer gewohnt? Ich sehe einige Radfahrer, meist alte Herren, die auf uralten Rädern in Schrittgeschwindigkeit umher fahren. Und einige Pferdewagen sind auch noch unterwegs. Zum Radfahren ist es jedenfalls sehr angenehm.



Ein kleiner Bunker am Straßenrand. Es gibt sie überall, Enver Hoxha hatte sie seinerzeit aus Angst vor einer Invasion bauen lassen.

Irgendwann merke ich dass ich etwas essen könnte. Da ich noch keine Lek abgehoben habe nutze ich die Gelegenheit, als ich an einer Tankstelle mit einem Restaurant daneben vorbei komme - hier kann man sicher mit Karte bezahlen. Das Mädchen an der Kasse ist superfreundlich - und sie spricht Englisch. "Can I Pay by card?" - "No". Oh je. "Can I Pay by Euro?" - "Or by Lek", antwortet sie lachend. Glück gehabt. Da mein erster Kontakt in Albanien ist, frage ich sie, wie man "bitte", "danke", "Hallo" usw. sagt. Sie erklärt mir alles geduldig und schreibt anschließend einen kleinen Zettel mit den wichtigsten Vokabeln für mich. Sehr nett. Die Sprache ist allerdings speziell, sie hat mit keiner anderen Sprache, die ich kenne, etwas zu tun und auch einfache Worte sind offenbar oft vielsilbig: Danke heißt falenditerim...

Nachdem ich mein Wasser gekauft habe, esse ich in dem Restaurant nebenan. Völlig untouristisch, und dementsprechend die Karte nur in Albanisch und natürlich ohne dusslige Fotos von den Gerichten. Ich bestelle etwas, was sich nach Schnitzel in Zitronensauce anhört, weil es das einzige ist, worunter ich mir etwas vorstellen kann - und es schmeckt reichlich italienisch und vorzüglich. Als ich fertig bin, spricht mich der Typ vom Nachbartisch an, der gerade im Begriff ist zu gehen. Auf französisch zählt er mir auf, in welchen Ländern er schon gearbeitet hat: Frankreich, Holland, Griechenland... Ich falle ihm ins Wort: "Dann sprichst Du ja Griechisch!", sage ich auf Griechisch. "Βεβαίως" (sicher), kommt es zurück, und von da an unterhalten wir uns auf Griechisch. Als ich sage, dass ich das erste Mal in Albanien bin, fragt er mich, wie es mir gefalle. "Sehr gut", antworte ich, und da schaut er etwas nachdenklich. Irgendwie scheint er etwas mit seiner Heimat zu hadern.

Kurz nachdem ich wieder losgefahren bin, sehe ich vor mir einen anderen Radreisenden. Ich beeile mich, zu ihm aufzuschließen. In der Regel sind Radreisende zweckmäßig gekleidet, und mitunter leidet darunter ein wenig die Ästhetik. Fahrradklamotten haben oft Farben, die man eigentlich nur auf Textmarkern sehen möchte und Muster, dass einem schwindelig wird. Und überhaupt sieht man darin schnell nach Wurst in halboffener Pelle aus. Dieser Radler zeichnet sich hingegen durch schlichte Eleganz aus: Rote Radkappe, azurblaues Trikot, silberner Dreitagebart (nicht grau), dazu natürlich gebräunte Olivenhaut und ruhige, warme Augen. Wenn er kein Italiener ist, gehe ich zu Fuß weiter. "Where are You from?" - "D'Italia!". Diego ist zu 2. Mal mit dem Rad auf dem Balkan unterwegs. Bosnien habe ihm bisher am besten gefallen, sagt er. Dann fragt er, wie mein erster Eindruck von Albanien sei, und ich antworte ehrlich: "Viel besser, als erwartet.". Er bestätigt dies, und erzählt von in Italien lebenden Albanern, die ihn gewarnt hätten, vor dem Verkehr und dass ihm sein Fahrrad geklaut würde. Es erinnert mich stark an die Horrorgeschichten, die ich bisher gehört gabe (freilich immer nur von Leuten, die noch nie hier waren). Wir lachen, und Diego sagt, dass die Albaner etwas verrückt seien, aber gut. Mir ist noch nicht vollumfänglich klar, was verrückt genau bedeutet, aber ein paar Ideen habe ich inzwischen schon.

Mit Diego in Lezhe
Irgendwann möchte das Navi mich einen unbefestigten Weg entlang führen. Das darf doch wohl nicht war sein. Ich suche lustlos herum, fahre etwas hin und her, aber ich finde keinen anderen Weg. 50 m nachdem ich eingebogen bin, tauchen 4 Burschen in den frühen Zwanzigern auf. Sie fragen mich, wohin ich wolle, und als sie mein Ziel hören beschreiben sie mir den Weg. Immer diese Richtung und dann auf die "big street". "Darf ich denn mit dem Fahrrad auf der big street fahren?", frage ich. Ja klar, überhaupt kein Problem. Sie erzählen ir noch kurz, wo sie schon überall gearbeitet haben (u.a. in Österreich), und ich fahre weiter. Das Suchen hat mich bestimmt 20 Minuten gekostet. Als ich an die Big Street komme, muss ich erstmal schlucken - es ist eine ganz normale Autobahn. Je zwei Spuren pro Richtung und Standstreifen. Ich hatte zwar irgendwo mal gelesen, dass es in Albanien ganz normal sei, mit dem Fahrrad auf der Autobahn zu fahren, aber mir geschworen es nicht zu tun. Andererseits kommt da auch gerade einer der alten Herren mit Schrittgeschwindigkeit an. Na gut, andere Länder andere Sitten. Anfangs bin ich etwas nervös, aber eigentlich ist es viel besser, als auf jeder Bundesstraße: Den Standstreifen hat man wirklich für sich. Dann sehe ich an einer Tankstelle die Polizei. Sie schauen die ankommenden Autos an, und überlegen, wen sie rauswinken wollen. "Oha, jetzt gibt's Ärger.", denke ich bei mir. Aber nichts, sie lassen mich einfach weiter mit dem Fahrrad über die Autobahn fahren. Unfassbar.

Irgendwann wird die Autobahn eine Bundesstraße und just in dem Moment bemerke ich, dass Argos Hinterreifen platt ist. In der Nähe ist eine Art Vulkanisateur (Neudeutsch: Reifenhändler), mit einer Art Café daneben. Beides sieht reichlich angeranzt aus, und es sitzen auch ein paar entsprechende Typen herum, aber es hilft ja nichts - ich muss einen neuen Schlauch einziehen. Nach 5 Sekunden stehen 5 Männer bei mir, die mir Hilfe anbieten oder mit mir quatschen möchten. 3 von ihnen sprechen wieder griechisch, die anderen beiden bleiben stur bei albanisch. Ob ich wirklich auf diesem Fahrrad aus Deutschland gekommen wäre, was das für Reifen wären und für ein Lenker (sie meinen die Aerobars). Sie erzählen mir, in welchen Ländern sie schon alles gearbeitet haben... Es scheint wirklich symptomatisch zu sein, dass eine Vielzahl von Albanern bereits im Ausland gearbeitet hat, oder es gerade tut. Mir wird bewusst, in welch ein privilegiertes Leben ich hereingeboren wurde. In Deutschland, was schon die halbe Miete ist. Und ich habe einen sicheren Job, der mir den zeitlichen und finanziellen Spielraum gibt, solche Abenteuer zu erleben. Zuhause setze ich das oft einfach voraus, aber hier wird mir bewusst, dass dies überhaupt nicht selbstverständlich ist. Und ich verstehe ein bisschen, was Diego mir "verrückt aber gut" meinte. Diese Männer können auf mitteleuropäische Stadtmenschen schnell etwas wild wirken. Aber sie haben mir sofort Hilfe angeboten, ein Bier (was ja auch schon Hilfe ist), und ich durfte mir die Hände waschen - sie sind tatsächlich sehr offen, hilfsbereit und interessiert.

Dies sind nur meine allerersten Eindrücke, und es wäre viel zu früh, anhand dieser etwas über Albanien zu sagen. Aber fürs erste bin ich positiv überrascht (jaja, die Erwartungshaltung). Ich habe mich entschieden, morgen noch einen Tag in Tirana zu bleiben. Ein kleiner Ruhetag kurz vor dem Endspurt, und ich möchte mich gerne etwas genauer umsehen. Wer weiß, wann ich das nächste Mal hier sein werde? Jedenfalls wurde mir heute mal wieder vor Augen geführt, dass man sich schließlich immer selber ein Bild machen sollte. Ansonsten ist nan schnell gefangen in einer Blase aus Vorurteilen anderer. Morgen Abend melde ich mich wahrscheinlich auch, obwohl Argos einen Tag pausiert, mit ein paar weiteren Eindrücken aus Tirana. Und übermorgen sind wir dann ja wieder normal unterwegs :) Gute Nacht für heute.

In Lezhe

Auf der Autobahn

Und der Blick über die Schulter

Die Einfallstraße - das war schon ein Tohuwabohu - und extrem staubige Luft

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen