Mittwoch, 16. September 2020

TPBR 2020: Tag 5 (Sion - Le Grand-Lemps)

Tag 5 beginnt um 4.30 Uhr, als der Wecker mich sanft aus dem Schlaf klingelt. So eine 5 1/2 h Nacht ist doch etwas Feines... Voller Tatendrang stehe ich auf und packe mein Zeug zusammen. Ich hatte es leichtsinnigerweise kreuz und quer im Schuppen verteilt - zwischen den Sachen der Eigentümer. Hoffentlich vergesse ich auch nichts? Draußen ist es noch sehr friedlich - und trocken. Gottseidank! Schnell putze ich mir die Zähne und es geht los.



Die ersten 5 km führen durch das Tal nach Westen, bevor meine Route nach Norden in die Berge abknickt. Am Abzweig gibt es einen Brunnen, an dem ich meine Flaschen nachfüllen möchte. Flaschen? Wieso ist denn da nur eine? "Weil Du die andere im Schuppen vergessen hast", dämmert es mir. Mist! Schnell überdenke ich meine Möglichkeiten: Dies ist die letzte Quelle bis zum Gipfel. Die 30 km Anstieg werden gut 3 h dauern, wofür ich bei vorsichtig geschätzten 500 ml/h rund 1.5 l bräuchte (eigentlich weiß ich, dass es länger dauert und dass ich mehr brauche). Meine Flasche fasst 1 l. Zurückfahren möchte ich aber auch nicht, weil hier überall Mitfahrer den Berg belagern und ich den Vorteil meines frühen Starts nicht verlieren möchte. Also trinke ich soviel ich eben kann, fülle meine Flasche und starte in den Anstieg. Langsam dämmert es und ich erkenne die Umgebung: Weinberge. "Hier unten wird Wein angebaut und oben gibt es Gletscher", denke ich, während die Straße immer steiler und steiler wird. Bald bin im kleinsten Gang, quäle mich im Wiegetritt empor und bei jeder Kurbelumdrehung steigt Argos Vorderrad. Was ist denn das für ein unmöglicher Weg? Ich schaue auf den Steigungsmesser und falle vor Schreck von Argos Rücken, als ich die Anzeige sehe: 26 %. Bei aller Liebe... ich schiebe. Nach rund 150 m mündet mein Wirtschaftsweg auf eine reguläre Straße, die nur mit moderaten 8 % steigt - welche Wohltat. Außerdem gibt es einen Brunnen, der nicht in der Karte verzeichnet war. Zur Feier frühstücke ich das letzte italienische Panino vom Vortag und trinke wieder, was ich kann, bevor es weiter geht.

Nach den Weinbergen kommen zunächst dichte Nadelwälder, bevor es in eine Almenlandschaft übergeht. Der Morgennebel mischt sich mit den Wolken, die ständig in Bewegung sind, und je weiter wir steigen, desto mehr geben sie von der Gebirgskulisse preis. Es sind überwältigende Anblicke. Ich muss an einen Schweizer denken, den ich einmal in den Bergen traf und der früh morgens sagte: "Manchmal fragt man sich schon, wieso man das alles macht. Aber wenn die Sonne auf geht, dann weiß man es wieder.". Recht hat er. Unterwegs kommen mir 3 Mitfahrer entgegen - alle bester Laune. Mit zweien unterhalte ich mich kurz, einer jodelt mir fröhlich in der Abfahrt entgegen und wünscht mir "Have fun!". So soll das sein :)









Über den Wolken



Etwas derangiert aber glücklich am CP2

Gegen 9 Uhr erreiche ich das Ende der Straße - Checkpoint 2, hurra! Und jetzt? Vor einem gedrungenen Berggasthof, der im kalten Morgennebel auch nicht wirklich einladend aussieht, fülle ich meine Flasche auf. Auf dem Weg habe ich Dextroenergen gefuttert, wirklich unterzuckert bin ich also nicht - aber eben auch nicht zufrieden. Zumindest ein Kaffee hätte schon etwas. Unschlüssig betrachte ich das feuchte Holzhaus, als ein blondes, Mädchen vor die Tür tritt, mich französisch anlächelt und ein fröhliches "Bonjour" flötet. "Bonjour", antworte ich etwas irritiert - in meiner Wahrnehmung passt sie zu Zeit und Ort, wie ein Reh in die Wüste... "Habt Ihr Kaffee?", frage ich sie. "Oh ja, wir haben sogar sehr guten Kaffee.", antwortet sie. "Na, dann soll es wohl sein.", denke ich und folge ihr hinein. Drinnen bin ich wieder überrascht: Es läuft cooler Bluesrock und hinter einer Theke steht ein lässiger, blonder, langhaariger Surfertyp, der optisch ziemlich gut zu ihr passt. Der Laden gefällt mir. Ich setze mich an einen Tisch direkt neben dem bollernden Ofen und beschließe, mich mit dem "Bergsteigerfrühstück" zu belohnen. Die Erwartung, die sein Name bei mir weckt, kann es nicht im Ansatz erfüllen - wir sind im französischen Sprach- und Kulturraum, und das Frühstück ist buchstäblich eine "kleine Entnüchterung": Etwas Brot, Käse und Feigenmarmelade - alles von höchster Qualität, aber eben auch ziemlich sparsam. Butter ist das einzige, was es im Überfluss gibt. Ach egal. Mit Genuss schlinge ich alles herunter (auch die Butter) und bestelle mir einen zweiten Kaffee. Die charmante junge Dame hat nicht übertrieben - er ist ausgezeichnet.

Als ich aufbreche bin ich zwar nur halbwegs satt, aber aufgewärmt und zufrieden. "Jetzt ab zum Mont Ventoux!", hat mir Dieter Deckenbach während der Kaffeepause geschrieben, und genau so fühlt es sich an. Mit der selben Euphorie, die mir bei den entgegenkommenden Mitfahrern aufgefallen war, stürze ich mich nun selber in die Abfahrt. Etliche Mitfahrer kommen mir entgegen; als ich Jost erkenne, halte ich an, um ihn zu begrüßen. Im Gegensatz zu mir hat er nicht den flachen Umweg durch die Po-Ebene genommen, sondern den direkten Weg durch die Berge - und hatte mit reichlich Unwetter zu kämpfen. Bald kommen noch Gabi, Hermann und Andrea herbeigefahren und für ein wenige Minuten stehen wir alle mitten auf der Straße und erzählen uns lachend von unseren Strapazen. Es ist ein kurzer, aber sehr schöner Moment der Gemeinschaft. Es gibt viele Aspekte, welche dieses Solo-Rennen zu einer so eindrücklichen Erfahrung machen. Die Wahrnehmung solcher kurzen Begegnungen, die Wertschätzung dafür, sind ganz sicher einer davon. Schon das Lächeln eines Fremden kann einem einen halben Tag gute Laune bereiten - diese Begegnung ist schon fast wie ein Klassentreffen. Entsprechend beseelt bin ich, als ich meinen Weg ins Tal fortsetze.

Gabi und Andrea verbreiten gute Laune

Die nächsten 90 km geht es das Rhône-Tal hinab, bis zum Genfer-See. Obwohl es kontinuierlich leicht bergab geht, komme ich mal wieder nur gemächlich voran: Gegenwind. Die letzten 40 km bis zum See bläst der Wind wie durch eine Düse das Tal hinauf -  nicht ohne Grund hat man eine Windturbine genau in die Mitte gebaut, die ich lange und zunehmend genervt von hinten betrachte, bis ich sie endlich hinter mir lasse. Meine gute Laune zerrinnt jedenfalls, wie Sand in einer Sanduhr. Erst gegen 14 Uhr erreiche ich Le Bouveret - und damit das Seeufer. Meine Vorräte sind inzwischen allesamt aufgebraucht, weshalb ich mich in einem Supermarkt neu eindecke: Cola, ein Joghurtgetränk, Pain aux raisins (ein Blätterteiggebäck mit Rosinen) und natürlich eine große Tüte Croissants. Ich merke, dass ich bereits unterzuckert bin und esse direkt vor dem Laden einige davon - sie schmecken köstlich. Dann kommt endlich der Genfer See - und bald die Grenze nach Frankreich. Es ist traumhaftes Wetter, der Wind ist verschwunden, und Argos rollt wie von alleine die Straße am See entlang, in das schöne Frankreich. Scheint ja doch alles ganz passabel.

Eine Windturbine von hinten - kein schöner Anblick für einen Radfahrer

Der Genfer See

Schon schön :)

Bald merke ich aber, dass etwas nicht stimmt: Mein Magen ist so merkwürdig sauer, dass ich kaum schlucken kann. Ist das etwa Sodbrennen? Eigentlich bin ich in dieser Hinsicht ziemlich robust, aber gerade bekomme ich keinen Bissen mehr herunter. Als ich nach gut zwei Stunden einem kleinen Örtchen an einem Brunnen halte, um Wasser zu tanken, merke ich dass ich völlig entkräftet bin. Schon wieder habe ich viel zu lange nichts gegessen... Nur bei dem Gedanken an ein weiteres Buttercroissant verbrennt mir beinahe der Magen. Aber wenn ich nicht essen kann, kann ich auch nicht fahren - das habe ich gestern am Simplon Pass gelernt. Auf dem Boden sitzend zwinge ich mir die letzten drei Buttercroissants herein und lege mich für ein kurzes Schläfchen direkt zwischen Brunnen und Gehweg auf den Boden. Im Halbschlaf merke ich, wie eine Dame halb über mich hinweg steigt, ohne weiter Anstoß an der Situation zu nehmen. Nach 20 Minuten rumort es in meinem Magen immer noch spürbar, aber ein guter Teil der Croissants ist offenbar direkt ins Blut gegangen: Ich fühle mich wieder stärker. Trotzdem habe ich ein ungutes Gefühl. "Wenn ich nicht essen kann, kann ich nicht fahren", dieser Gedanke geistert mir ständig im Kopf herum. Hoffentlich wird das wieder.

Argos wartet auf seinen Reiter...

...der gerade einen vorübergehenden Schwächeanfall erleidet


Blick auf den Schweizer Jura

Kurz vor Genf halte ich an einer Tankstelle, um mich wieder mit Vorräten einzudecken. Zwei Balisto, Cola und eine Art Prinzenrolle (die hat mich noch nie im Stich gelassen). Als ich ein Balisto nehme, zieht sich sofort alles zusammen, aber mit einem Schluck Cola geht es wieder einigermaßen. Wer hätte das gedacht, Cola hilft bei Magenbeschwerden?! Ich stürze die Flasche hinunter und für den Moment geht es ganz gut - also weiter. Zwischenzeitlich führte die Straße landeinwärts, weg von See, aber nun geht es endlich wieder entlang des glitzernden Wassers auf Genf zu. Auf der Promenade flanieren Menschen und die Ufer sind voll von jungen Leuten die den Sommer genießen. Eine tolle Stimmung, die sich schnell auf mich überträgt. Mit neuer Kraft geht es durch die Stadt, der ich schnell den Titel der mediterransten Stadt der Schweiz verleihe. Einzig der geordnete Verkehr erinnert daran, doch nicht am Mittelmeer zu sein. An einer Ampel hält ein teures, blitzendes Retro-Motorrad neben uns. Der Fahrer trägt eine modische, aber dicke Jacke, hat sein Gesicht unter einem offenen Helm vollständig vermummt und sieht zu mir herüber, wie ich im Stand auf Argos an der Ampel balanciere. "You want a race?", rutscht mir mein Standardspruch in dieser Situation über die Lippen. Er schüttelt den Kopf und sieht fort. Das wäre in Italien doch anders gelaufen...


Kurz vor Genf

In Genf


Als ich Genf gegen 18 Uhr verlasse, sind es noch rund 130 nicht zu bergige Kilometer zu meinem Tagesziel. Gut 6 Stunden, gegen kurz nach Mitternacht sollte ich ankommen. Ich bin zufrieden. Unterwegs tätige ich noch einen halbherzigen Einkauf in einer Boulangerie - trotz Cola traue ich dem Frieden mit meinem Magen nicht so recht. Jedenfalls habe ich viel zu wenig eingekauft, und als ich gegen 21.30 Uhr an einem Mc Donald's vorbeikomme, korrigiere ich meinen Fehler reichlich. Einen Teil des Essens nehme ich an Ort und Stelle, und obwohl ich versuche, ihn mit Cola zu besänftigen, protestiert mein Magen beleidigt. Wenn das so weiter geht... Dafür muss ich morgen wirklich eine Lösung finden. Für den Moment reicht Zähne zusammen beißen und bald geht es auch schon wieder. Weiter geht es über wenig befahrene, hügelige Sträßchen entlang der Rhône, durch eine wunderbare, grüne Landschaft - es ist einfach schön hier. Irgendwann ist es stockdunkel, aber angenehm mild und friedlich und ich bin unerklärlich guter Stimmung. Ob das an der ständigen Colatrinkerei liegt? Als ich rund 5 km vor meinem Ziel den letzten Hügel überwinde, sehe ich an einer Kreuzung oberhalb der Straße ein Maisfeld. Oberhalb der Straße bedeutet kaum einsehbar - ein perfekter Schlafplatz, wie auf einem Balkon. Kurzerhand entschließe ich mich, mir die letzten 5 km zu schenken und die Gelegenheit beim Schopfe zu greifen. Argos und ich nehmen dieses schöne Plätzchen, und ich beeile mich mit der Abendroutine. Es ist so mild, dass ich den Schlafsack gar nicht auspacke und mich stattdessen mit Daunenjacke und Beinlingen direkt in den Biwaksack lege. Und gegen halb eins fallen mir endlich die Augen zu.

318.0 km, 3401 hm, 20.1 km/h.



Durch die burgundische Pforte



Le Rhône im letzten Abendlicht (warum sagen wir Deutschen eigentlich die Rhone)