Sonntag, 31. Mai 2020

Auf nach Freiberg (Teil III)

Als um 7 Uhr mein Wecker klingelt, bin ich bereits einigermaßen wach. Ab einem unbestimmten Zeitpunkt kamen immer wieder vereinzelte Autos die Straße entlang. In der allgemeinen Ruhe waren sie um so auffälliger, wodurch ich allmählich geweckt wurde. Wie immer beim Aufstehen fühle ich gespannt in mich hinein - und bin zufrieden: Etwas schwere Beine, aber kein Muskelkater und auch keine größeren Verspannungen. Schnell ziehe ich mich an (eigentlich tausche ich nur meine Schlaf-Boxershorts gegen die etwas klamme Fahrradhose) und just als ich wieder im Beinkleid da stehe, öffnet sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Hoftor und ein Herr verlässt sein Haus, diskret, scheinbar ohne Notiz von mir zu nehmen. "Zeit fürs Frühstück.", denke ich erleichtert, und mache mich über den halben Falafel-Teller her, der vom Vorabend übrig geblieben ist, während mein Schlafsack noch etwas auslüftet.

1a Schlafplatz mit Schrankfächern :)

Schmecken auch kalt

Bald darauf sind wir wieder unterwegs auf einer wenig befahrenen Bundesstraße. Teils alleemäßig bewachsen, schwingt sie sich sanft sinusförmig (vertikal) durch die Landschaft, vor dem Panorama des Thüringer Waldes im Süden - perfekt um sie mit einem Cabrio zu befahren. Argos und ich mühen uns an den kurzen Anstiegen einigermaßen ab, aber die Landschaft entschädigt. Als wir an ein paar Windrädern vorbeikommen, die in unterschiedliche Richtungen nach dem Wind Ausschau zu halten scheinen, wird mit außerdem bewusst, dass dies das erste Mal auf dieser Tour ist, dass es keinen (Gegen-)Wind gibt. So kommen wir doch ganz gut voran und nach rund einer Stunde erreichen wir Gotha. Unzählige Male bin ich hier vorbei gekommen, und doch habe ich die Stadt nie gesehen. Deshalb gönne ich mir eine kurze Platzrunde durch die Altstadt (mein 2. Frühstück möchte ich im wunderbaren Erfurt nehmen). Mit seinen hübschen, bunten Altbauten und dem Pflaster erinnert mich Gotha auf den ersten Blick an eine Miniaturausgabe von Freiberg - sehr sympathisch - bis auf einem Hügel ein gigantisches Schloss zum Vorschein kommt. Das frühbarocke Schloss Friedenstein, erbaut durch Ernst den Frommen, seinerzeit eine der größten Anlagen überhaupt, mit botanischem Garten und allem Zip und Zap. Gotha war damals die Residenz des Herzogs von Sachsen-Gotha, wie ich auf einer Informationstafel lese. Nichts davon hatte ich auf dem Schirm - und fühle mich reichlich banausig. Mit schlechtem Gewissen trage ich Gotha auf meiner "Muss ich mal mit etwas mehr Zeit sehen"-Liste ein, und mache noch ein paar Fotos (es gelingt mir kaum, das riesige Schloss in seiner Gänze abzulichten). Und als ich weiterfahre denke ich darüber nach, wie sehr sich die Dinge ändern: Vor nur ein paar hundert Jahren ein kulturelles, wirtschaftliches und politisches Zentrum, ist Gotha heute nurmehr eine hübsche Kleinstadt am Rande der A4, von der die wohl viele Menschen gar kein Bild haben. Aber selbst das Römische Imperium ist irgendwann untergegangen...


Ja wo ist er denn, der Wind?

Schloss Friedenstein

"Nur" das Herzogliche Museum im Schlosspark (nicht das Schloss!)

Bald kommen wir nach Erfurt. Seit Köln die größte Stadt auf dieser Tour, Universitätsstadt und zu Recht Landeshauptstadt von Thüringen. Der Flughafen, den wir zu Beginn passieren, ist zwar vergleichsweise überschaubar, aber doch habe ich das Gefühl, in eine Metropole einzufahren: Straßenbahn, große, gepflegte Häuser, und die wunderschöne, aber doch weitläufige Altstadt. Vom Domplatz aus mache ich eine kleine Platzrunde, bevor ich mir bei einem Bäcker ein üppiges Frühstück kaufe, was ich auf einem belebten Platz auf einer Bank sitzend einnehme - die Tische der Bäckerei sind alle belegt. An einem Tisch nebenan sitzt offenbar eine Gruppe (geisteswissenschaftlicher) Doktoranden, die sich angeregt unterhalten, gepflegte ältere Herrschaften, hippe junge Städter - alle sind dankbar, nach dem Lockdown wieder draußen zu sein und, ja was eigentlich zu tun? Persönlich komme ich prima alleine zurecht, aber auch mir tut es zuweilen einfach gut, unter Menschen zu sein. Der Anblick brummenden Lebens ist wie Kaffee: Zu wenig macht mich lethargisch, zu viel nervös, aber im richtigen Maße ist er anregend und beruhigend zugleich. So nehme ich mir reichlich Zeit für das Frühstück, nehme Gebäck und Eindrücke ich mich auf, und als ich aufbreche fühle mich so frisch wie seit Beginn dieser Tour nicht mehr. Danke, Erfurt!

Der Erfurter Dom(-Platz)

Mehltau?

Keine Filter, das sah wirklich so aus


Die nächste Stadt ist Weimar, kleiner als Erfurt, aber (mindestens) ebenso kultiviert. Ich würde mich gerne etwas umsehen, aber dies ist keine Touristenfahrt, sondern zumindest ein bisschen eine Rennsimulation:

Der Tag hat 24 h, davon will ich idealerweise 7 h schlafen. Bleiben noch 17 h. Vor und nach der Nacht benötige ich insgesamt ca. 1.5 h. Noch 15.5 h. Wenn ich dann mit einem Schnitt von 21 km/h (für einen Rennradler langsam aber angesichts des Pensums realistisch) 12 h auf Argos sitze, sind das ziemlich genau die angestrebten 250 km pro Tag. Typischerweise verbringt man ca. 15 % der Zeit tagsüber mit einkaufen, essen, Reparaturen, pausieren - also ist man 13.8 h unterwegs um 12 h zu fahren. Damit bleiben noch ganze 1.7 h übrig. Man kann sie zu touristischen Zwecken nutzen, als extra Pause, oder man kann sich damit einen gewissen Puffer herausfahren (1.7 h  35 km) Es sollen ja auch mal unvorhergesehene Dinge passieren ;) Diese Überlegung zeigt in welche Richtung es geht, wenn man schneller werden möchte. Die Durchschnittsgeschwindigkeit lässt sich schwerlich erhöhen (James Hayden, zweimaliger Gewinner des Transcontinental Race, fährt in derartigen Rennen irgendwas um die 24 km/h). Fiona Kolbinger, die Gewinnerin des letztjährigen Transcontinentals hat im Schnitt 4 h pro Nacht geschlafen - und war nebenher auch noch unglaublich effizient in allem, was sie tat. So konnte sie ca. 400 km pro Tag zurück legen. Eine schier unfassbare Leistung - die Dame ist 24 Jahre jung, hat gerade ihr Medizinstudium beendet und vor dem Beginn ihrer Weiterbildung "mal eben" das Transcontinental gewonnen (vor den Männern)... Zyniker würden sagen, es gewinnt, wer sich am meisten quält. Aber das wäre sehr eindimensional. Es hat wohl auch mit der eigenen Wahrnehmung zu tun, die manche Menschen mehr, andere weniger lenken können. Sicherlich war es das Gegenteil von Zuckerschlecken, auch für Fiona. Aber es gibt kaum ein Bild von ihr, auf dem sie nicht sympathisch lächelt, als täte sie gerade genau das, was sie möchte. Wie sie es schafft, genau das zu wollen, was sie gerade tut, das bleibt freilich ihr Erfolgsgeheimnis.

Ich möchte jedenfalls nicht gewinnen. Ich will eigentlich nur zur (Finisher-)Party. Aber auch das erfordert bereits ein hohes Maß an Konzentration und Disziplin, was mir bewusst wird, als ich Weimar verlasse, ohne wenigstens einen Kaffee genommen zu haben. Egal, die nächste Stadt ist Jena. Von der Autobahn aus sieht man dort nur eine riesige Plattenbausiedlung, die ich vom ersten Anblick an einschüchternd empfand. Aber das Zentrum dieser weiteren Universitätsstadt soll eine tolle, belebte Altstadt haben, die ich noch nicht kenne. Hier will ich mir ein kleines Päuschen gönnen. Auf einer Bank in einer Einkaufsstraße nehme ich ein (leider nur mittelmäßiges) Eis. "Na, so toll ist das hier auch alles nicht...", denke ich etwas enttäuscht. Erst als ich die Stadt verlassen möchte, finde ich den "schönen Teil" der Altstadt. Kurzentschlossen kaufe ich bei einer Gemüseasiatin (in NRW sind die meisten Gemüsehändler türkischstämmig, in den neuen Ländern werden sie oft von Asiaten betrieben) Wasser und einen leckeren, frischen Obstsalat, bevor es weiter geht.

Als ich auf der Ausfallstraße bin fällt mir plötzlich auf, wie schwül es geworden ist. Inzwischen weht ein Westwind (Rückenwind = gut), aber im Westen sind auch bedrohlich dunkle Wolken zu sehen (dunkle Wolken = schlecht). Bald bekomme ich vereinzelte Tropfen ab, und kurz bevor es in einen Sturzregen übergeht, finde ich Zuflucht - in einer Bushaltestelle. Ich checke drei verschiedene Wetterapps, die leider auch drei verschiedene Einschätzungen der aktuellen Wetterlage abgeben - zwischen "es gibt keinen Regen" und "Dauerregen für den Rest des Tages" liegt die App von Wetteronline mit "in 15' ist es vorbeigezogen". Ich beschließe, der Wetteronline-Prognose eine Chance zu geben und werde belohnt: Der starke Regen ist bald vorbei und danach tröpfelt es nur noch unmotiviert vor sich hin (Empfehlung: Wetteronline). Mit dem Wetter hat sich jedoch auch meine Stimmung eingetrübt: Es sind noch 120 km bis nach Freiberg. Es hilft nichts, Regenjacke drüber und weiter. Eigentlich komme ich gut voran und die Landschaft ist schön: Nadel- und Mischwälder wechseln sich mit Wiesen und Feldern ab. Ich habe auch keine direkten körperlichen Probleme. Aber irgendwie fehlt mir der blaue Himmel und überhaupt habe ich in den letzten 36 h schon reichlich Zeit auf Argos Rücken verbracht. Dass ich keine Lust mehr hätte würde der ganzen Situation nicht gerecht, aber meine Motivation ist mal eben 2 Etagen nach unten gegangen. Wenn das jetzt schon so ist, wie soll das dann bei einem Rennen über 8 Tage sein? Ich erinnere mich an ein Mantra der Langstreckenradler: "Wenn es gut ist, dann wird es schlecht werden. Und wenn es schlecht ist, dann wird es wieder gut werden.". Diese Stimmungsschwankungen gehören offenbar dazu. Ich versuche mich bei Laune zu halten und denke an das liebe, schöne Freiberg. Stelle mir vor, wie ich zufrieden auf dem Obermarkt auf "meiner" Bank sitze, einen Döner esse und ein Bier trinke (wie zu Studienzeiten). Aber das scheint noch so weit weg, dazwischen liegen, eigentlich lächerliche aber mir gerade unüberwindbar scheinende, 120 nasse Kilometer. Ich denke an die ausgeglichene Fiona und Mark Beaumont. Letzterer hält den Rekord im mit dem Fahrrad um die Welt fahren (in unter 79 Tagen). In einem Interview sagte er einmal, dass es ihm nicht helfe, an das Ziel zu denken, da dieses unter Umständen noch unendlich weit weg sei. Das Beste wäre es, Gefallen an dem zu finden, was man gerade tut ("appreciate what you are doing" - mir fällt keine deutsche Übersetzung ein, die es so auf den Punkt bringt). Den Teil habe ich verstanden, und er trifft auf alles im Leben zu: Jede Anstrengung fällt einem umso leichter, je weniger man sie als solche begreift (sei es ein privates oder berufliches Projekt, ein Hausbau oder eine Dissertation). Aber wie schafft man es seine Gedanken zu lenken? Vielleicht hilft es zu akzeptieren, dass manche Unannehmlichkeit einfach dazu gehört. Also denke ich an ein weiteres Mantra: "If you are going through hell, keep going!". So schlimm ist es gottseidank noch nicht mal, aber ich mache einfach weiter, weise mich selber immer wieder auf schöne Dinge hin, und irgendwann greift das erste Mantra: Es wird wieder gut. Übrigens just in dem Moment, als ich einen Wegweiser nach Freiberg sehe, mit Entfernungsangabe - nur noch 18 km :)

Schöner Obstsalat...

Schöner Wald...

Schöne Stromschnellen...

Schöne Blüten...

... und wieder gute Laune!


Nun geht es schnell und gegen halb elf passieren wir das Ortsschild. Ich ahne dass ich, einmal im Hotel, nicht mehr ausgehen werde, und kaufe mir direkt einen Döner und ein Bier (Freiberger Pilsner!). Im Zimmer wasche ich schnell meine Kleidung, staunend über den Dreck, der sich in 2 1/2 Tagen angesammelt hat. Nach einer Dusche nehme ich, im Bett sitzend, mein Abendessen, begeistert von der Stille im Zimmer. Als ich mich dann in den Federn ausstrecke fühlt es sich für mich eben so luxuriös an, wie Schloss Friedenstein sich für Ernst den Frommen angefühlt haben muss, und nach Sekunden nimmt mich ein tiefer, dunkler Schlaf in seine Obhut - gute Nacht für heute.

Dienstag, 26. Mai 2020

Auf nach Freiberg (Teil II)

Um 8.20 Uhr klingelt der Wecker. Allerdings fühle ich mich, als hätte ich die ganze Nacht kaum geschlafen. Kurz nach dem Hinlegen wurde mir kalt, also schnell die Beinlinge drüber. Zu kalt war es damit nicht mehr, aber gegenüber einem hermetisch abgeriegelten Schlafzimmer gibt es draußen im Wald eben doch allerhand zu hören. Außerdem muss ich aufpassen, nicht von der schmalen Bank zu fallen, auf der ich liege (der Boden schien mir zu dreckig). Irgendwann, deutlich vor Sonnenaufgang, erwachen dann die Vögel und veranstalten ein amtliches Pfeifkonzert. So bin ich fast erleichtert, als ich aufstehen kann - und dass ich die Nacht doch gut überstanden habe. Außerdem ist es ein traumhafter Morgen, mit gleißendem Licht und wolkenlosem Himmel.





Vor der Hütte

Etwas überfahren - aber glücklich

Etwas benommen packe ich meine Sachen zusammen, mache mich fertig und nach 55 Minuten verlassen Argos und ich dankbar unsere Unterkunft. Vorsichtig horche ich in mich hinein: Beine, Hintern, Schultern, Nacken - eigentlich fühlt sich alles ziemlich gut an. Aber man soll den Tag nicht vor dem Abend loben - es war ja auch erst ein halber Tag.

Bis Greifenstein ist es nicht weit und als wir um eine Kurve biegen, erkenne ich die Burg. Der Ort liegt auf über 400 m, direkt oberhalb des Dilltals. Man hat eine wunderbare Aussicht, besonders an diesem Morgen. Ich schieße ein paar obligatorische Bilder und dann sausen wir die über 200 hm hinunter ins Tal. An einer Bäckerei gibt es ein Frühstück und dann geht es ziemlich eben weiter entlang der Dill und der Lahn bis nach Gießen. Dort mache ich schnell ein Bild vor einem legendären Dönerladen für meinen alten Freund Moritz und dann verlassen wir Gießen schon wieder in östlicher Richtung. Die Gegend kenne ich noch gut von früher und mit den meisten Ortschaften, durch die ich komme, verbinde ich Erinnerungen an Menschen, die ich einmal kannte und Geschichten, die ich mit ihnen erlebt habe. Ich denke darüber nach, wie manche Menschen und auch Gegenden einen für eine bestimmte Zeit begleiten, vielleicht eine prägende Rolle spielen, bevor das Leben eine Wende macht, und es in eine andere Richtung geht. Wege treffen sich und gehen wieder auseinander. Irgendwann kann man auf eine Reihe solcher Lebensphasen zurückblicken - für diese hier bin ich dankbar.

Burg Greifenstein

Blick nach Südosten

Hätte ich die Sonnenbrille auf dem vorherigen Bild auch mal getragen...

Die wohl einzige Spielhalle mit Dönerspieß über dem Eingang

Während ich so meinen Gedanken nachhänge, klettere ich langsam im Vogelsberg empor. Von der räumlichen Ausdehnung ist er zwar kein großes Mittelgebirge, aber immerhin komme ich bis auf über 600 m. Ich fürchte schon, dass ich zu langsam unterwegs bin, denn in Fulda, auf der anderen Seite, bin ich mit Freunden zum Kaffee verabredet. Die Abfahrt geht aber dafür ziemlich zügig und gegen viertel vor vier komme ich an unserem Treffpunkt im Cafe im Kloster Frauenberg an. Nach 150 bergigen Kilometern merke ich schon, dass meine Beine nicht mehr ganz frisch sind, und ich bin froh, eine Pause zu machen. Außerdem freue ich mich, die beiden zu sehen - es ist immer besonders schön, wenn man fernab der Heimat das bekannte Gesicht eines Freundes sieht. Wir essen gemeinsam, genießen die Aussicht auf die Stadt und die Rhön und quatschen über alles Mögliche, aber nach über 2 Stunden merke ich, dass ich langsam weiter soll. Schließlich habe ich noch rund 120 km vor mir.

Im Vogelsberg



Vatertag

Der Blick vom Frauenberg

Wir verabschieden uns und Argos und ich machen uns wieder auf den Weg. Die Pause hat gut getan, meine Beine fühlen sich an wie neu, Argos fährt praktisch von alleine das Fuldatal hinunter. Sanft geschwungene grüne Hügel, liebevoll gepflegte Ortschaften, und das alles schon wieder im goldenen Abendlicht - es ist schön hier. Mein Weg führt mich nach Bad Hersfeld, wo ich im Botanischen Gärtchen neben der Stiftsruine (darin finden die Festspiele statt) eine kurze Pause mache. Auch hier ist es schön. Ich erinnere mich an eine Pizzeria, die mit ihrem Steinofen wahre Wunder vollbringen konnte - aber in 50 km kommt in Herleshausen ein Mc Donald's, der für meine Schwester und mich eine historische Bedeutung hat (niemals würde ich sonst McDo den Vorzug geben!). Als Notration - von meinen selbstgebackenen Müsliriegeln ist inzwischen nur noch einer übrig - kaufe ich an einer Tankstelle noch schnell eine Bifi und eine kleine Packung Prinzenrolle. Und schon geht es weiter: Die nächsten 200 hm in Richtung Friedewald stehen an. Die Straße zieht sich durch dichte Laubwälder, und hier ist es bereits so dunkel, dass ich meine Lampe einschalte. Bei der Abfahrt fallen mir am Horizont plötzlich merkwürdige Umrisse auf - grauweiß und unwirklich hoch, im Vergleich zu den grünen, sanft abgerundeten Mittelgebirgshügeln. Als ich näher komme erkenne ich sie: Die Abraumhalden vom Kalibergbau. Ich liebe die Berge, aber diese Salzriesen sind irgendwie bizarr. Echte Fremdkörper in der Landschaft, und im Gegensatz zu den Abraumhalden vom Braunkohletagebau wird auf ihnen niemals etwas wachsen - sie bestehen aus Salz. Dennoch ist es eine wunderbare Abendstimmung - das Werratal ist einfach schön. Langsam bin ich aber doch etwas in Eile. Ich möchte ja noch etwas essen und gerne nicht wieder erst um 3 Uhr im Bett liegen. Also trete ich motiviert in die Pedale und denke an das "goldene M", bei dem Kathrin und ich bei unseren Fahrten nach und von Freiberg auf halbem Wege so viele Male eingekehrt sind - auch das eine Episode, die inzwischen über 15 Jahre zurück liegt.

Die Stiftsruine in Bad Hersfeld

Einer der Kali Berge bei Heringen


Entlang der Werra


Der Mc Donald's in Herleshausen

Als ich mich Herleshausen nähere werde ich allerdings unruhig: Wo ist denn nun bloß das goldene M? Die werden doch wohl noch nicht geschlossen haben? Man sieht sowas doch normalerweise von weit her... Als ich in die Straße einbiege kommt die Gewissheit - der Laden ist zu. Oh nein. Inzwischen bin ich wirklich hungrig. Und obwohl ich weiß, dass eine Prinzenrolle einen in solchen Situationen nicht im Stich lässt, sehne ich mich nach etwas Herzhaftem. Ich bin ziemlich in der Provinz, es ist ca. halb elf abends und in den letzten Ortschaften hatte schon lange nichts mehr geöffnet. Viele Möglichkeiten habe ich nicht mehr, aber in gut 10 km kommt Eisenach - da sollte es hoffentlich noch etwas geben.

Ich atme meinen letzten Müsliriegel ein und schon eilen wir weiter. Den geplanten Abstecher zur Wartburg schenke ich mir, und fahre direkt ins Zentrum. Gottseidank finde ich einen Dönerladen, in dem ich mit einem Wolfshunger einen Döner verschlinge und noch einen Falafel-Teller als Betthupferl mitnehme. Mein Ziel ist ein Örtchen ca. 15 km hinter Eisenach, in dem ich wieder eine Waldhütte ausgeguckt habe. Als ich aber nach 10 km in einem sehr stillen Ort an einer schönen gemauerten Bushaltestelle vorbeikomme, entscheide ich mich um. Es ist zwar direkt an der Hauptstraße, aber neben dem Eingang ist es in dem Häuschen so dunkel und uneinsehbar, dass ich mich ziemlich sicher fühle. Und außerdem bin ich schlicht hundemüde. Die "Abendroutine" ist zwar noch etwas holprig, aber um kurz vor eins liege ich im Bett. "Zwei Stunden früher als gestern", denke ich zufrieden und bin schon eingeschlafen. Gute Nacht für heute.

Samstag, 23. Mai 2020

Auf nach Freiberg (Teil I)

Es ist Mittwoch Nachmittag, gleich soll es losgehen. Pünktlich nach der letzten Online-Konferenz mit den Kollegen (es ist 👑-Zeit) möchte ich eigentlich auf Argos sitzen und losreiten. Meine Packliste ist sogar bereits fertig - ansonsten habe ich jedoch noch nichts vorbereitet. "Das wird doch nicht so lange dauern", denke ich, und lerne meine erste Lektion (leider zum wiederholten Male), bereits vor der Abfahrt: Es dauert immer alles länger als angenommen. Wo war noch gleich das Flickzeug, die Kette muss ja noch abgeschmiert werden, nur noch schnell die Aero-Bars dran, aber dann muss ich ja die Lampe umbauen, und wie sieht eigentlich die Küche aus... Ich bewege mich wie in einem dieser Zeitlupen-Alpträume, nur der Sekundenzeiger wird immer schneller. Endlich, gegen kurz vor acht (also abends), sitze ich auf dem Rad und wir rollen los.

Endlich bereit

Es geht in Richtung Süden aus der Stadt, Oberbilk, Wersten, Holthausen - ziemlich Hauptstraße und inzwischen auch wieder ziemlich viel befahren. Aber ab Benrath wird es schön. Es geht am Rhein entlang, grün die Bäume, blau der Himmel, golden das Licht, und die Menschen, sozial ausgehungert nach zwei Monaten Lockdown, alle draußen (wie ich ja auch). Alles mit Abstand, natürlich.

Vater Rhein bei Benrath
Vater Rhein bei Benrath

Und die Schatten werden länger
Die Schatten werden länger

Ich mag die rechte Rheinseite südlich von Düsseldorf: Urdenbach, Baumberg, Monheim haben fast etwas Magisches, besonders in dieser sanften Abendstimmung. Allerdings bin ich nicht so richtig entspannt: Mein heutiges Ziel ist eine Schutzhütte im Wald, in der Nähe von Greifenstein, einem Örtchen am Ostrand des Westerwaldes - rund 150 km entfernt. Wenn ich noch eine Pause mache werde ich gegen 2 Uhr nachts ankommen. Ganz schön spät. Es ist das erste Mal, dass ich so tief in die Nacht fahre und auch das erste Mal, dass ich biwakieren werde (abgesehen von der Bundeswehr-Zeit). Beides ist wichtig zur Vorbereitung auf das Three Peaks, aber mir ist auch etwas mulmig zu Mute. Aber noch ist es schön. Inzwischen ist die Sonne untergegangen, die "Blaue Stunde" angebrochen. Ich komme durch Leverkusen und Köln-Mülheim, und hier brummt das Leben: Buntes Treiben auf den Straßen, vor Läden die Brautmoden, Gegrilltes, Gemüse und Süßes verkaufen. In der Luft liegt ein Duft von Holzkohle, Zitrone und Olivenöl - ein bisschen wie Duisburg-Hochfeld (hach, Duisburg...). Argos kennt dieses Gewusel von den Balkanländern und findet seinen Weg wie ein Fuchs im Dickicht. 

Blaue Stunde...
Blaue Stunde...

... und schwarze Nacht (aber gutes Licht)
... Schwarze Nacht (aber gutes Licht)


So geht es aus Köln heraus, Siegburg und dann - ja dann? Die Straße biegt in Richtung Südosten ab, es geht langsam bergauf, ich passiere einen Ortsausgang und sehe dass der nächste Ort (nennen wir ihn "Nirgendwotupfingen") 16 km entfernt ist. "Das kann doch nicht sein, 16 km keine Ortschaft?!", denke ich bei mir, und schon verschluckt mich die Dunkelheit. Plötzlich ist es Nacht, die Straße windet sich durch Wälder und Felder empor, selten überholt mich ein Auto und ich habe noch knapp 100 km bis zu meinem Ziel - einer Hütte im Wald, die ich bei Google-Earth meine gesehen zu haben. Beklommenheit steigt in mir auf. Die ganze Welt ist zu Hause, geht bald in Geborgenheit ins Bettchen, während ich mutterseelenallein durch die Nacht strampele, zu einem ungewissen Ziel - was wenn die Hütte voller Scherben ist oder andere, also echte, Obdachlose dort hausen? Aber es sind gar nicht so sehr rationale Überlegungen, es ist einfach ein Gefühl der Unsicherheit, Ausgesetztheit und Einsamkeit, das ich aus meinen vertrauten vier Wänden überhaupt nicht kenne. Plötzlich ist all meine Abenteuerlust verschwunden, zärtlich denke ich an mein Bettchen zu Hause und stelle mir vor, was meine Mutter mir entsetzt zu diesem Vorhaben sagen würde (vorsorglich habe ich sie nicht eingeweiht). Ob das wirklich alles das Richtige für mich ist? Ein erfahrener Randonneur hatte mir einmal geraten, "in die Nacht" zu fahren - jetzt weiß ich warum. "Don't scratch at night" steht im Handbuch des Transcontinental Race - "Gib nicht nachts auf". Ich bin noch warm, trocken und ausgeruht, habe eigentlich überhaupt gar kein Problem, aber ich ahne schon jetzt, dass dieser Satz dort aus gutem Grund steht. Also rufe ich mich zur Ordnung, bin rational: In 40 km kommt ein Mc Donald's, dort werde ich Licht sehen und etwas essen und dann kommen noch 50 romantische Kilometer bis zum Ziel. Anders als das Wort übernachten impliziert, ist die  Nacht kein Hindernis, was  überwunden werden muss. Man kann sie schlicht verbringen, drinnen oder draußen. Was für eine Lusche doch diese ganze Zivilisation aus mir gemacht hat! So versuche ich, die Dinge zu sehen wie sie sind: Eine fantastische Sommernacht, die Möglichkeit durch sie zu radeln und die Freiheit das zu tun. Es kostet etwas Selbstbeherrschung, aber ich finde meine innere Ruhe wieder - und irgendwann gegen kurz nach zwei biege ich von der Bundesstraße ab, Kurve ein paar hundert Meter durch den Wald und finde am Waldesrand meine Hütte. Sauber, nicht einsehbar, geschützt gelegen: Wie im Katalog :) Ich bastele mein Bettchen zusammen, nehme eine Magnesiumtablette, putze mir die Zähne, mache Katzenwäsche mit feuchten Tüchern und sprühe eine ordentliche Ladung Desinfektionsmittel in meine Fahrradhose (denn am nächsten Tag werde ich sie wieder tragen). Kurz vor 3 liege ich im Bett. Kein einziges menschengemachtes Geräusch ist zu hören. "Na, war doch alles halb so wild!", denke ich, und mache die Augen zu. Gute Nacht für heute.

Montag, 18. Mai 2020

Das Fahrradjahr 2020

Inzwischen ist es Mitte Mai - nicht gerade überfrüh für einen Eintrag mit diesem Titel. Man möge es mir nachsehen. Immerhin ist es auch noch nicht wirklich zu spät, denn die großen Fahrradziele des Jahres liegen noch vor mir... Denn ... Trommelwirbel ... ich habe mich für das Three Peaks Bike Race angemeldet, ein "unsupported" "Bikepacking" "Rennen" von Wien nach Nizza.

"Unsupported" bedeutet, dass man keinerlei Hilfe in Anspruch nehmen darf. Kein Teamauto, keine Mechaniker, keinen Masseur (gottseidank, das hätte ich ja alles gar nicht). Aber auch keinen Windschatten von anderen Radfahrern, keine Verpflegung an improvisierten Stationen von Familie oder Freunden, noch nicht einmal Tips über das Wetter oder hinsichtlich der Route. Denn die muss man sich selber suchen. 

"Bikepacking" ist schnell erklärt - man hat eben alles, was man braucht, selber dabei - oder kann es auch unterwegs kaufen. Nur Hilfe von außen ist nicht erlaubt...

Für ein "Rennen" ist es allerdings ein ziemlich spezieller Modus. Damit  niemand auf die Idee kommt, die Alpen links liegen zu lassen, sind drei bergige Streckenabschnitte obligatorisch: Die Großglockner Hochalpenstraße, der Col du Sanetsch im Wallis und der Mont Ventoux in der Provence. Wenn ich daran denke wird mir heiß und kalt. Ansonsten bereitet man seine Route selber vor, je nachdem ob man lieber flach und weit(er) oder bergig und (etwas) kürzer bevorzugt. Verkürzen, z.B. mit der Bahn, geht nicht, denn man bekommt einen GPS-Tracker und für die Dauer des Rennens kann jeder auf einer Homepage die Position und die Geschwindigkeit der Teilnehmer verfolgen - rund um die Uhr. Ein gutes Stichwort, denn es wird auch rund um die Uhr gefahren. Es geht am 25. Juli um 16 Uhr in Wien los und dann läuft die Uhr. Wer als erster in Nizza ankommt hat gewonnen. Das wird vermutlich nach weniger als 6 Tagen passieren, bei einer Entfernung von rund 2000 km... Bis zum 3. August um 18 Uhr wird jemand von den Organisatoren am Ziel sein, und spätestens bis dahin wollen die meisten angekommen sein. Dann gibt es eine kleine Finisher-Party. Ich stelle mir vor, dass man zusammen ein Bier trinkt, 3 Teller Nudeln und 4 Eis isst, bevor man an Ort und Stelle umkippt. Die rund 100 Teilnehmer sind keine Profis, sondern ein bunter Haufen aus Fahrrad-Verrückten kreuz und quer aus Europa. Dementsprechend gibt es auch kein Preisgeld; vermutlich fahren die wenigsten gegen andere sondern eher für sich selbst.

Das ist zumindest mein Ansatz. Nach 9 Tagen und 2 Stunden ist die Finisher Party - also wäre ich gerne nach 8 1/2 Tagen da, um etwas Puffer zu haben. Mein Soll sind also ca. 200 - 250 sehr bergige Kilometer am Tag. Je näher der Start rückt, desto mulmiger wird mir zumute: Es ist eine ganz andere Hausnummer als meine Tour im letzten Sommer. Allerdings bereite ich mich in diesem Jahr auch ziemlich ernsthaft vor. Spätestens seit Anfang Januar sind Argos und ich (gefühlt) ständig gemeinsam unterwegs und sammeln Kilometer.  Dabei geht es gar nicht so sehr darum, ein superstarker Radfahrer zu werden, sondern mich einfach an das ständige Treten, die Haltung, das Sitzen zu gewöhnen. James Hayden, zweimaliger Gewinner des Transcontinental Race (ebenfalls ein unsupported Bikepacking Rennen, rund 4000 km (!) quer durch Europa), sagte in einem Interview "You can't train for Ultra Endurance.". Es gibt eben kein Patentrezept dafür, tagein, tagaus 250 km und mehr auf dem Fahrrad zurückzulegen. Allerdings habe ich bei Chris White gelesen, dass die allermeisten Teilnehmer (des Transcontinental Race) in den 6 Monaten vor dem Rennen zwischen 6000 und 8000 Trainingskilometer zurück legen, und dass das ausreichend ist, wenn man von einem vernünftigen Niveau aus anfängt. Etwas Glück und fest die Zähne zusammen beißen gehört dann natürlich auch noch dazu.

An den letzten Wochenenden habe ich recht lange Touren (bis 300+ km) gemacht. Das klappt also schon mal. Aber was ist, wenn man den folgenden Tag nicht bis in den frühen Nachmittag im Wachkoma auf dem Sofa liegend verbringt, sondern wieder aufs Rad steigt? Davor habe ich immer noch etwas Bammel. Ich sollte nicht nur meine Ausrüstung, sondern auch mich selber testen - unter "Rennbedingungen". Und genau das werde ich über das Himmelfahrtswochenende machen :)

Mittwoch Abend starten Argos und ich in Richtung des schönen Freiberg (in Sachsen, dort habe ich studiert). Freitag Abend kommen wir hoffentlich an. Übernachtet wird - wie zumindest ab und zu im Rennen - draußen. Und die Tagesetappen sind ebenfalls "rennkonform". Insgesamt rund 680 km bei 5100 hm. In Freiberg gibts dann zur Belohnung eine Hotelübernachtung und eine Eierschecke :) Samstag geht es dann nach Dresden und von dort nehmen wir den durchgehenden IC nach Wuppertal. Wahrscheinlich schaffe ich es nicht, von unterwegs einen täglichen Eintrag zu schreiben - allenfalls kurze Lebenszeichen im Telegrammstil... Aber nachträglich gibt es hier sicher einen Bericht.

Bis dahin viele vorfreudige und etwas hektische Grüße - es gibt noch einiges vorzubereiten. Eigentlich wollte ich ja auch noch vom Two Volcano Sprint berichten, für den ich mich ebenfalls angemeldet habe. Aber das mache ich dann nach der Rückkehr von Freiberg :)