Samstag, 6. Juli 2019

Tag 30: Von Venedig über Vicenza nach Verona

Die Nacht auf dem Schiff war prima - zum schlafen ist eine fensterlose Kabine doch bestens geeignet. Dementsprechend werde ich vom Wecker geweckt, den ich schnell abstelle, um meine Kabinengenossen nicht zu stören. Kurz denke ich daran zu duschen, verwerfe es aber in Anbetracht der engen Dusche mit Vorhang schnell wieder. Gestern war ja kein so anstrengender Tag... Also ziehe ich mir noch im Bett liegend, im Dunklen meine Fahrradsachen an, und verlasse schnell die Kabine. Das Schiff ist schon in der Lagune und fährt durch ein enges Fahrwasser in Richtung Mestre, bald werden wir da sein. Ohne viel darüber nachzudenken, bestelle ich an der Bar einen Cappuccino und einen Toast (Kochschinken-Käse - DER griechische Snack). Erst als ich an meinem etwas faden Kaffee nippe, wird mir bewusst, dass ich gleich in Italien sein werde - Italien, dem Land, wo man an jeder abgeranzten Provinztankstelle vorzüglichen Kaffee bekommt. Dann muss ich eben mehr Caffè trinken :) Schnell packe ich in der Kabine meine Sachen und dann legt das Schiff auch schon an. Ich bastele die Taschen wieder an Argos, der die Nacht mit den anderen Fahrrädern in einer Art Käfig im Bauch des Schiffes verbracht hat, und schon verlassen wir das Schiff - und betreten italienischen Boden.

Beim Verlassen des Schiffs

Ein letzter Blick auf die "Hellenic Spirit"
Allerdings sieht es hier erstmal nicht ganz so aus, wie wir italophilen Deutschen es uns gemeinhin romantisierend vorstellen: Der Hafen ist, nun ja, eben ein Hafen, und dahinter schließt sich direkt ein Industriegebiet an. "Ziemlich grün alles", ist mein erster Eindruck. Es sieht schon fast nicht mehr subtropisch aus. Sommerlich zwar, aber eher gemäßigt. Ich bin etwas enttäuscht, sehe ich doch das von mir so verehrte Italien gerade mit anderen Augen. "Na komm, Du bist in einem Industriegebiet.", sage ich mir, und creme mich bei der ersten Gelegenheit mit Sonnencreme ein. Dann geht es weiter, und siehe, Italien, was mich noch nie im Stich gelassen hat, zeigt mir wieder sein schönes Gesicht: Das Industriegebiet ist vorbei und es wird ländlich und grün, bis wir in den nächsten Ort kommen. Hier gibt es ein paar kleine Kanäle, ähnlich wie in Venedig, und plötzlich sehe ich vor einer Bar ein paar Rennräder. Das Schicksal lädt mich zu einem zweiten Frühstück ein - und ich nehme gerne an. Die Rennräder gehören ein paar älteren Herren, die ihre sonntägliche Ausfahrt mit einem Caffè und ein paar Brioche (meist gefüllte Croissants) krönen. Ich hoffe inständig auf Tramezzini - sehr dünne, sehr weiße, nicht geröstete Toastbrotscheiben ohne Rand, die es mit verschiedenen Belägen / Füllungen gibt. Eigentlich geht es nur um den Belag, und das "Brot" ist nur da, um sich die Finger nicht schmutzig zu machen. Ich liebe Tramezzini, weil sie seit jeher jeglicher wohlmeinenden Gesundheits- und Ernährungshysterie trotzen (pures Weizenmehl, die Füllung manchmal etwas fettig) - und einfach unglaublich lecker schmecken :) Und wieder einmal meint Italien es gut mit mir: Es gibt Tramezzini und sie schmecken köstlich.

Die mutmaßlichen Sieger der Giri d'Italia 1979 - 1982 beim Frühstück

Eine ungewöhnliche Bauform, aber es sind Tramezzini (mit Kochschinken und Pilzen bzw. Thunfisch)
Als ich weiterfahre, wird mir bewusst, wie unglaublich viele Rennradler mir entgegen kommen. Vielleicht ist dieser Sport in Italien noch populärer als in Deutschland? Jedenfalls macht es ziemlich Laune, viele Gleichgesinnte zu treffen. Die allermeisten sind schon ältere Semester und gehen es nicht besonders verbissen an. Aber zu sehen, wie sie am Sonntagmorgen mit ihren alten Schätzchen unterwegs sind, einfach weil sie es schon seit Jahrzehnten so tun, bereitet mir Freude. Die Landschaft sieht zum Teil immer noch ein bisschen aus wie das Münsterland, aber dort ist es ja bekanntermaßen auch schon fast etwas italienisch ;)

Das ist nicht der Emsradweg...

...und dies ist nicht die Ems.


Kurz hinter Padua (weit sind wir also noch nicht gekommen), fällt mir in einem Ort eine sehr schöne Pasticceria (eine Konditorei) auf. Ob das Schicksal möchte, dass ich ein drittes Frühstück nehme? Ich überschlage kurz meinem Kalorienbilanz der letzten Wochen und komme zu dem Ergebnis, dass vermutlich keine akute Gefahr für Übergewicht besteht. Na dann... :) Ich entscheide mich für ein vorzügliches Blätterteigteilchen mit einer Füllung aus Pistaziencreme - köstlich. Vor lauter Begeisterung teile ich das Erlebnis per Whatsapp mit meinem Freund Jan, der das Glück hat, mit Dani, einer echten Italienerin verheiratet zu sein. "Du solltest noch ein Eis nehmen!", schreibt er mir umgehend zurück. Er hat Recht, und tatsächlich gibt es sogar Eis. "Man soll die Feste feiern wie sie fallen.", denke ich, und esse noch ein Pistazieneis, mit vielen kleinen Stücken echter Pistazien. Hmmm :)



Nun geht es weiter in Richtung Vicenza. Es liegt auf unserem Weg nach Verona, und da ich bisher noch nie dort war, möchte ich einen kleinen Zwischenstopp machen. Als wir ankommen ist es Mittagszeit, und weil heute auch noch Sonntag ist, flanieren in der Stadt schon einige Menschen. Mein erster Eindruck von Vicenza ist positiv: Wie in der überwiegenden Mehrzahl der Städte Norditaliens ist der Stadtkern auch hier wunderschön, mit vielen vielen Renaissance-Bauten. Auf Wikipedia lese ich, dass Vicenza eine der reichsten Städte Italiens sei - klingt glaubwürdig. Mein zweiter Eindruck ist sehr positiv: Es sind kaum Touristen unterwegs. Eigentlich klar: die meisten zieht es ins nah gelegene Venedig, einige ins benachbarte Padua, und viele nach Verona. Ich selbst bin ja auch zum ersten Mal hier. Und es lohnt sich. Ich binde Argos gegenüber einer Bar an und mache einen kleinen Spaziergang. Auf dem zentralen Platz, der Piazza dei Signori, gibt es eine nette Veranstaltung für Kinder und ich schaue kurz zu, wie ein paar Bambini mit Tretautos um die Wette fahren. Dann lasse ich mich durch die Gassen treiben, besuche eine Kirche und finde einen interessanten Laden mit ausgefallenen Panini. Irgendwann nehme ich noch ein Eis, aber dann erinnere ich ich an den treuen Argos, der immer noch auf mich wartet - Zeit wieder weiter zu fahren.


Kurz vor Vicenza: Im Hintergrund die Alpen




Automobile Schönheiten gehören in Italien einfach dazu - leider noch verhüllt







Tolle Panini. Und natürlich ist es keine Cola sondern Chinotto - Bitterorangenlimonade


Vicenza liegt fast auf halbem Weg nach Verona, aber ab jetzt fühlt es sich so an, als ob wir schon fast da wären. Ob das daran liegt, dass ich nun nicht mehr alle 15 km eine Essenspause mache? Egal. Die Landschaft wird allmählich hügelig und die Felder gehen immer mehr in Weinberge über, während die Nachmittagssonne alles mit ihrem weichen, goldenen Licht begießt. Es ist wunderschön, und ich werde etwas wehmütig, als mir bewusst wird, dass diese die letzten Kilometer dieser langen Reise auf Argos sein werden. Als ich daran denke was vor mir liegt, daran dass ich morgen Abend voraussichtlich zu Hause sein werde, erscheint es mir fast unwirklich. Wenn ich aber zurück denke, an die Tage, ja Wochen im Sattel, erscheint mir auch das unwirklich. "Vielleicht ist es manchmal das beste im Hier und Jetzt zu bleiben.", denke ich mir, und genieße die Umgebung. Fruchtbares, liebliches Land wechselt sich mit kleinen, namenlosen aber sehr schönen Örtchen ab.





Als ich schon in den Außenbezirken von Verona bin, nehme ich in einer Pasticceria noch einen letzten Caffè und ein ganz köstliches Mandelgebäck, bevor ich bei Tobias, Barbara und Paula ankomme. Tobias und ich sind Kollegen, und zufällig verbringen die drei gerade ein paar Tage hier. Als uns vor der Abreise bewusst wurde, dass wir an diesem Tag zusammen in Verona sein würden, haben sie mich sofort eingeladen, in ihrer Ferienwohnung zu übernachten - sehr nett :) Inzwischen ist es auch schon wieder ein paar Tag her, dass ich meine Eltern gesehen habe, und es ist schön, ein paar Gesichter aus der Heimat zu sehen. Paula sehe ich allerdings zum ersten Mal - sie ist erst ein halbes Jahr alt: Ein robustes, gut gelauntes Baby, was lacht wenn man es kitzelt, Grimassen schneidet, oder es anlacht :) Abends machen wir einen kleinen Spaziergang durch die Stadt. Verona ist wesentlich voller als Vicenza, aber auch sehr schön. Wir finden ein nettes Restaurant, in dem es reichlich Pferd und Esel auf der Karte gibt. Ich erinnere mich daran, dass in dieser Gegend viel Pferd gegessen wird... Diesmal beschränken wir es aber auf ein Minimum: Lediglich eine Eselsalami als Vorspeise, ansonsten kommt kein Pferd auf die Teller - und es schmeckt trotzdem. Als wir wieder zu Hause sind, bin ich ziemlich müde. Als Paula noch einmal aufwacht, bekomme ich es kaum mit - und bewundere dann Tobi und Barbara, die sicherlich auch müde sind, aber sich natürlich um ihre Tochter kümmern. Ob junge Eltern irgendwelche besonderen Hormone haben, die sie irgendwie aufputschen? Ich wünsche es den beiden, wie ich schlaftrunken in meinem Bettchen liege.

Morgen früh gegen 9 Uhr werden wir gemeinsam vom Bahnhof abfahren. Die drei nach Mailand und ich über München nach Düsseldorf. Es ist eine ziemlich gute Verbindung (weniger als 12 Stunden), aber Argos und ich sind längere Stand- bzw. Sitzzeiten nicht mehr gewohnt. Mal sehen, wie es wird. Gute Nacht für heute.

Mit Tobias, Barbara und Paula in Verona