Mittwoch, 26. August 2020

TPBR 2020: Tag 4 (Milano - Sion)

Um 6.15 Uhr klingelt der Wecker - und weckt mich. Ein Stündchen mehr hätte es schon sein können, aber irgendwie stehe ich dieser Tage so unter Strom, dass ich doch sofort da bin. Die allmorgenliche Bestandsaufnahme fällt sogar erstaunlich gut aus: Ein leichtes Zwicken hier und da, ab und zu ein etwas beleidigtes Murren vom Hintern, aber insgesamt tip-top. Schnell ziehe ich mich an, packe ich mein Zeug zusammen, gebe Argos einen Klaps und nach 20 Minuten sitze ich beim Frühstück. Aus aktuellem Anlass gibt es hier gerade kein Buffet, sondern ein freundlicher Mitarbeiter bringt einem ein Frühstückstablett. Hmm, ob sich die Vorstellung von Frühstück dieses italienischen Hotelangestellten mit der eines Teilnehmers eines Langdistanzradrennens deckt? "Egal, Du musst sowieso noch schön italienisch frühstücken.", denke ich bei mir. Was ich schließlich bekomme, liegt vermutlich irgendwo zwischen unserer beider Vorstellungen. Schon in Ordnung. Im besten Grundausbildungstempo verputze ich alles, was mir essbar erscheint und schon bald verlassen Argos und ich zufrieden das Hotel. 

1. Frühstück (international, trotz Wassermelone)

Ein guter Teil meiner Zufriedenheit rührt auch daher, dass ich noch ein zweites Frühstück vor mir habe - Vorfreude... :) Das Schicksal meint es mal wieder gut mit mir, als ich nach 3 Minuten an einer tollen Pasticceria (Garbagnati) vorbei komme. Ein paar Köstlichkeiten sowie einen doppelten Caffè nehme ich an Ort und Stelle, ein paar weitere Köstlichkeiten kommen als Wegzehrung mit. Als wir wieder unterwegs sind, ist gerade ziemlich viel los, aber Argos gleitet geschmeidig durch den Verkehr und bald haben wir das Zentrum hinter uns gelassen. Nach 1 1/2 h sind wir noch nicht so richtig weit gekommen, aber als ich eine schöne Bar sehe, entscheide ich mich für ein drittes Frühstück - schließlich werde ich Italien schon heute (vorerst) wieder verlassen. An der Bar bestelle ich zwei Stücke Gebäck und einen doppelten Caffè, als mich plötzlich jemand an der Wade leckt. Irritiert drehe ich mich um und sehe eine elegante Dame, die mich etwas verlegen anlächelt. In ihrer Hand hält sie eine Leine, an deren Ende ein kleiner, ausgewachsener Hund mit etwas irrem Interesse in meine Richtung schnuppert - wenn er nur wüsste, wie gut das Gebäck hier schmeckt... Ich unterhalte mich kurz mit seinem netten Frauchen und als wir uns verabschieden, wünscht sie mir "buon'avventura". Sehr passend :)

2. Frühstück (italienisch)



3. Frühstück (italienisch)

Als ich wieder unterwegs bin, wage ich einen flüchtigen Blick auf die Trackerseite. Puh, das sieht gottseidank wieder besser aus. Sicher in der vorderen Hälfte, vielleicht sogar im vorderen Drittel? Na wir wollen mal nicht übertreiben... Bevor ich das Handy wieder wegpacke, sehe ich, dass wenige Kilometer vor mir ein Mitfahrer unterwegs ist. Unvorsichtigerweise erzähle ich Argos davon, dessen Jagdinstinkt natürlich sofort erwacht. "Hrrr, den fangen wir schön ein...", knurrt er gut gelaunt und fängt an, schneller zu rollen. Na schön, es ist ja nicht so, dass ich keine Lust hätte... Zügig sind wir unterwegs und dann, in einer der nächsten Ortschaften, sehe ich ihn. Mitfahrer sind immer leicht zu erkennen, mit dem ganzen Gepäck am Rennrad. Er hat scheinbar gerade nicht die beste Zeit auf dem Rad, jedenfalls sieht er stark nach einer wenigstens halb durchfahrenen Nacht aus. Dankbar denke ich an meine luxuriöse 5 Stunden Nacht - und ziehe mit einem kurzen Gruß vorbei.

Kurz darauf breitet sich vor mir der Lago Maggiore aus. Es ist das erste Mal, dass ich ihn sehe und ich bin sofort begeistert. Von der Südseite kommend, kann ich längs nach Norden über den See schauen und im Hintergrund die Berge sehen - traumhaft. 30 kurzweilige Kilometer geht es für uns am Westufer entlang, durch glamouröse Badeorte und vorbei an eleganten Villen - sehr schön. Dann biegen wir nach Nordwesten ab, Richtung Domodossola, wo der Simplon-Pass beginnt. Unterwegs überhole ich einen Herrn auf seinem Rennrad; als ich kurz darauf Wasser nachfülle, holt er mich wieder ein. "Wo fährst Du hin?", fragt er mich. "Nach Nizza." - "Über den Simplon-Pass?". Ich erzähle, dass wir ein Rennen machen und im Wallis einen Checkpoint haben, woraufhin er zu meiner Überraschung "Ahh, Three Peaks!" entgegnet. Damit hatte ich nicht gerechnet. Auch er wünscht mir alles Gute und es geht weiter. In Domodossola habe ich zwar erst gut 120 km hinter mir, aber meine Vorräte sind schon wieder am Ende. Die letzte Stadt in Italien, eine gute Gelegenheit, sich noch einmal einzudecken. Wir verlassen kurz unsere Route und finden schnell eine Bar. Perfekt. Eine Dame in meinem Alter, die aber irgendwie ein ungemein mütterlicher Typ ist, macht mir drei Panini, während ich Caffè und Cola trinke und ein Eis am Stiel esse (soweit ich mich erinnern kann, das erste Mal Eis am Stiel in Italien). Und dann beginnt der Simplon.

Am Lago Maggiore

Ich hatte mich für diese Route entschieden, weil sie für ihre wenigen Höhenmeter vergleichsweise kurz ist. "Und der Simplon ist ja nur knapp über 2000 m hoch.", dachte ich, "Kinderspiel.". Dabei hatte ich jedoch nicht auf dem Schirm gehabt, dass ich ihn mir von der Po-Ebene aus würde erarbeiten müssen. Von Domodossola sind es zur Passhöhe immerhin über 1700 hm. Anfangs bin ich guter Dinge, es ist warm, die Berge sind schön. Die Straße ist nicht allzu steil, der Pass ist stark auf Durchgangsverkehr ausgerichtet und dementsprechend gibt es viele Galerien - und Autos. Noch stören sie mich nicht. Aber je höher ich komme, desto enger wird das Tal, desto dunkler und abweisender die Berge. Ein rechtes Bollwerk. Irgendwie haben es die Menschen geschafft, diese Straße hindurch zu bauen. Mit immer mehr Galerien, die langsam anfangen, mich zu nerven. Überhaupt scheint dieser Pass ewig zu dauern: Keine allzu große Steigung, aber laaang. Ich beginne zu denken, dass ich lieber ein Ende mit Schrecken, als diesen Schrecken ohne Ende hätte. Irgendwann fängt es, trotz Sonnenscheins, an zu regnen. Oh Mann. Dann verlangsamt neben mir ein Auto der Straßenmeisterei, aus dem geöffneten Fenster ruft mir der Fahrer etwas zu: "Velo, da...", und zeigt irgendwo in die Berge. "Ist das kürzer?", frage ich. "Schöner!", kommt es zurück. "Davon kann ich mir auch nichts kaufen.", denke ich, und bleibe trotzig auf der Straße mit den inzwischen völlig nervigen Autos. Es kommt nicht häufig vor, dass Argos sich Sorgen macht, aber hier greift er ein: "Bist Du sicher, dass alles in Ordnung bei Dir ist? Vielleicht solltest Du mal etwas essen...". Er hat Recht. Das letzte Mal ist rund 2 Stunden her und bei Auffahrten bringt man doch kontinuierlich eine erhöhte Leistung. Ich bin völlig unterzuckert. Wenn ich während des Kletterns esse, werde ich immer so kurzatmig - also vergesse ich es einfach... So esse ich während der Fahrt grunzend ein Panino von meiner italienischen Ersatz-Mamma und warte darauf, dass es besser wird. So richtig will sich aber keine Besserung einstellen. Der Regen tröpfelt genau so unmotiviert auf die Erde, wie ich mich in den Himmel empor quäle... Und mein Kopf geht ins Notprogramm und denkt in einer Endlosschleife, dass man mit jeder Kurbelumdrehung dem Ziel näherkommt, und man es so auch irgendwann erreichen wird. Und genau das geschieht, irgendwann: Die Passhöhe ist erreicht. Himmel, das wurde aber auch Zeit!


In einer der zahllosen Galerien

Einer der Männer hat mir sogar Wasser angeboten

Panino




Geschafft - aber nicht in Feierlaune

Eigentlich wollte / sollte ich sofort weiter, aber ich brauche eine Pause. Reichlich wackelig betrete ich das Restaurant. Spaghetti Bolognese und ein gemischter Salat werden mich hoffentlich wieder auf die Beine bringen. Während ich auf der Bank sitze und auf mein Essen warte, bin ich erschrocken, wie schlecht ich mich inzwischen fühle. Viel geht gerade wirklich nicht mehr. Ich versuche, nicht darüber nach zu denken, wie es nun weitergeht, und trinke Cola. Dann kommt mein Essen - ein unfassbar riesiger Teller Nudeln und ein ebenfalls riesiger Salat. Habe ich doppelte Portionen bestellt? Allerdings bin ich in so einem merkwürdigen Zustand, dass ich mich kaum darüber freuen kann und es fast als Überforderung empfinde... Trotzdem zwinge ich mich, alles aufzuessen und gönne mir danach 5 Minuten, in denen ich den Kopf einfach auf den Tisch lege.  Endlich spüre ich, wie sich mein Zustand verbessert. Die Auferstehung feiere ich mit einem doppelten Espresso, in den ich zwei Tütchen Zucker schütte. Als ich wieder zurück bei Argos bin, fühle ich mich immer noch nicht zum Bäume ausreißen, aber Welten besser als zuvor. Nur warum kommt da drüben schon die Nacht? Moment, das ist doch Westen... Ich schaue auf die Wetterapp: Was aussieht, wie der Weltuntergang ist ein Gewitter, was in rund 20 Minuten hier ankommen soll. "Dem werde ich entkommen!", denke ich grimmig, streife hektisch mein Regenkostüm über und stürze mich auf Argos in die Abfahrt. Blitz und Donner bleiben uns tatsächlich erspart, aber nach kaum 200 m platschen die ersten dicken Tropfen herab und bald werden wir geduscht. Jetzt bin ich dankbar für die ständigen Galerien, aber jedes Mal wenn wir sie verlassen ist es, als führen wir gegen eine Wand aus Wasser. Wie kalt doch so eine Passabfahrt im Regen sein kann. 

Aber die 20 km und 1300 hm sind dann doch schnell abgerollt und, wie das in den Bergen eben häufig so ist, hört der Regen im Tal auf und es ist warm. An einem Blumenkübel halte ich an und lege meine Regensachen ab. Ein bisschen wackelig bin ich immer noch auf den Beinen, aber das liegt vielleicht auch daran, dass ich von der Abfahrt noch durchgefroren bin? Als ich auf den folgenden Kilometern langsam wieder auftaue, fühle ich mich tatsächlich wieder besser - Probleme kommen, Probleme gehen. So kommt auch der Optimismus wieder zurück: Es wäre tatsächlich möglich, den Checkpoint 2 noch heute zu machen... Ich schreibe ein paar Nachrichten mit Hansjörg, der mich immer gut motiviert. "Klar machst Du das heute noch! Wieviele Höhenmeter sind das denn?", schreibt er. "1800 - ich habe Angst.", antworte ich, nur halb im Scherz. "Hätte ich auch :)", kommt es zurück.


Im Rhône-Tal

Da wo die Wolken am dichtesten sind, geht es zum Col du Sanetsch hoch

10 km vor Sion fängt es plötzlich wieder an zu regnen. Aus der Ferne höre ich Donnergrollen. Madonna del Ghisallo! An einer Kiesgrube stelle ich mich unter und schaue auf das Wetterradar. Durchziehende kräftige Schauer, Gewitterneigung. Na sowas?! Wie ärgerlich, ich will doch noch heute zum Col du Sanetsch... Angestrengt wäge ich ab - und entscheide mich am Ende für die sichere Variante: Eine Nacht im Ibis in Sion, dem Talort des Passes, und morgen in aller Frühe los. Mit der Erleichterung, die man nach einer schwierigen Entscheidung manchmal spürt, ziehe ich nur schnell die Regenjacke über und schwinge ich mich auf Argos - es ist ja nicht mehr weit und gleich gibt es eine warme Dusche... Als ich im Hotel ankomme, klaube ich die besten Reste meines 2 jährigen Schulfranzösisch hervor, setze ein gewinnendes Lächeln auf, frage die junge Dame an der Rezeption nach einem Zimmer und sehe sie erwartungsvoll an. Ah, sie antwortet. Moment, was hat sie gesagt? Ich habe sie nicht verstanden, es hat sich allerdings nicht nach "Mais oui" oder "Bien sûr" angehört. Und warum schaut sie so mitleidig? Sehe ich so abgerissen aus? "Pardon?" frage ich noch einmal nach, und konzentriere mich mit aller Kraft auf ihre Antwort: "Je suis désolé - on est complet.". Ein kleiner Teil von mir ist hingerissen von der intrinsischen Höflichkeit dieser Sprache: "Ich bin betrübt - man ist vollständig.". Und mit welch aufrichtigem Bedauern sie es sagt... Ein großer Teil von mir verliert gerade innerlich die Fassung. Was mache ich denn jetzt? Auf Booking suche ich nach Alternativen, aber sie sind alle außerhalb meiner Reichweite - entweder räumlich oder finanziell. Ich schaue Argos an - er sieht stark und zu allem entschlossen aus - und spüre trotzigen Wahnsinn in mir aufsteigen. "Dann fahre ich eben im Unwetter da hoch...". Ich bilde mir sogar ein, irgendwo ein irres Kichern zu hören.Wir sind gerade wieder losgerollt, als aus Argos mal wieder die Stimme der Vernunft zu mir spricht: "Bist Du sicher dass es eine gute Idee ist, direkt ins Unwetter zu fahren? Du bist ziemlich fertig, in solchen Situationen kann man leicht sehr folgenschwere Entscheidungen treffen. Ein Gewitter in den Bergen ist kein Spaß und der Pass ist lang.".

Er hat Recht. Nach wenigen hundert Metern sehe ich eine Pizzeria und beschließe, dort einzukehren, mich etwas zu erholen, und dann in Ruhe zu sehen, was wir machen. Obwohl es draußen noch warm ist, setze ich mich als einziger Gast nach drinnen, weil ich wirklich nicht mehr frieren möchte und Energie sparen muss. Während ich auf die Pizza warte, starre ich verbissen auf die Wetterapp: Immer wieder ziehen Unwetter durch, mit Regen und Gewitter. Wirklich besser werden soll es erst ab 2 Uhr morgens. Angestrengt denke ich nach: Wenn ich mich nachts im Unwetter da hoch quäle, ist der morgige Tag schon fast verloren - dafür brauche ich noch nicht einmal vom Blitz getroffen werden. Eigentlich eine glasklare Erkenntnis, aber wie unglaublich schwer es doch fällt, erschöpft und übermüdet einen rationalen Gedanken zu fassen. Mein Blick fällt auf die Terrasse der Pizzeria, die von einer äußerst großzügigen und robusten Markise überdacht wird... Der Kellner ist ein netter Kerl in meinem Alter und spricht gutes Englisch. Als er abräumt, erkläre ich ihm dass ich an einem Rennen teilnehme und frage, ob ich nicht auf der Terrasse übernachten könnte - ich hätte alles dabei, morgen früh wäre keine Spur mehr von mir übrig. Ernst schaut er mich an: "I have to ask the boss.". Er verschwindet für eine lange Viertelstunde, in der ich bange an meiner Rivella nippe, und als er zurück kommt rechne ich fest mit einer Abfuhr: "It's ok.", sagt er lässig. Hurra, mir fällt ein Stein vom Herzen. Ein Tisch ist noch belegt, aber die wollen sicher gleich zahlen. Ich gehe schnell auf die Toilette und putze meine Zähne. Als ich zurück komme, ist der Chef da. Nachdenklich sieht er mich an und erklärt etwas auf Französisch, was ich nicht verstehe. Gottseidank ist mein polyglotter Kellnerfreund noch da, der mir übersetzt. Sie haben einen Sicherheitsdienst, der in der Nacht einen Rundgang macht. Und wenn die mich auf der Terrasse finden, rufen sie mitten in der Nacht den Chef an... Die beiden reden nachdenklich miteinander, wovon ich wenig verstehe. Immerhin schicken sie mich nicht einfach weg. "Dans la cabane?", fragt der Chef irgendwann. Mein Freund nickt und endlich führt der Chef mich um das Haus zu einem Wellblechanbau. Der fensterlose Raum, in dem die Familie ihre Motorradausrüstung, Ski und ein E-Bike lagern, ist vielleicht 4 Quadratmeter groß, aber sauber und es gibt elektrisches Licht und eine Tür, die man zumachen kann. Es ist perfekt. Als der Chef mich fragend ansieht, möchte ich ihm am liebsten um den Hals fallen. Ich bin gerade dabei, mein Lager auszubreiten, als es noch einmal klopft. Mein Freund bringt mir einen Zettel, auf dem der Chef erklärt, dass er mir erlaubt, hier zu übernachten - falls der Sicherheitsdienst mich doch findet. Was für herzensgute Menschen! Und ausgezeichnete Pizza machen sie auch noch :) Gerne mache ich Werbung für sie: Pizzeria Pont du Rhône in Sion. Gegen 23 Uhr liege ich gemütlich, warm und trocken in meiner Hütte und höre draußen Regen und Gewitter. "Danke, Madonna del Ghisallo.", denke ich noch, und schlafe zufrieden ein.

256.6 km, 2410 hm, 22.4 km/h.

Dans la cabane (das E-Bike hat draußen übernachtet)


Sonntag, 23. August 2020

TPBR 2020: Tag 3 (Bruneck - Milano)

Bevor der Wecker um 7 Uhr klingelt, werde ich von Geräuschen geweckt: Ich habe bei offenen Fenstern geschlafen und auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Hotel höre ich, wie wohl eines der benachbarten Geschäfte beliefert wird. Nicht schlimm, es ist eine heitere Betriebsamkeit und durch die Vorhänge kann ich schon sehen, dass es ein schöner Tag wird. Meine Sachen sind über Nacht auch nahezu getrocknet, also packe ich schnell alles zusammen. Übrigens habe  ich mir überlegt, dass ich schneller fahren kann (und es vor allem mehr genieße), wenn ich halbwegs vernünftig schlafe - sollen die anderen sich mal schön die Nächte um die Ohren schlagen... Und essen muss ich ja sowieso. Also nehme ich das Frühstück, pünktlich um halb acht, auch noch mit. Als ich das Buffet sehe ist sofort klar, dass es die absolut richtige Entscheidung war, hier zu essen. Großzügig und vielseitig wie ein Tiroler Frühstück, aber mit Prosciutto Cotto und Crudo und diesen wunderbaren Kuchen, die es eben nur in Italien gibt. Das ist Südtirol: Best of both worlds! :)

Als Argos und ich starten bin ich allerbester Stimmung - welch ein Gegensatz zu gestern. Nicht auf die Trackerseite geschaut, gut erholt, blauer Himmel und: Es geht nach Italien. Also in das "richtige" Italien, wo man nur Italienisch spricht. Noch während ich Bruneck verlasse, rauschen zwei Mitfahrer an mir vorbei - sie fahren als Paar, dürfen einander Windschatten geben und sind wirklich flott unterwegs. Obwohl sie mich überholen, freue ich mich doch, sie zu sehen: Inzwischen sind wir über 500 km von Wien entfernt, das Feld wird sich schon reichlich zerstreut haben, aber trotzdem ist man nicht alleine unterwegs. 

Bald biege ich von der Bundesstraße ab und halte an, um mich für den Tag vorzubereiten: Sonnencreme. Während ich mich in Ruhe einschmiere (wie gesagt, das ist die treffendste Bezeichnung), radelt ein weiterer, einzelner Mitfahrer an mir vorbei. Ich bleibe locker - bis zum Ziel sind es noch über 1500 km und nach meiner gestrigen kleinen Krise habe ich eines verstanden: Dieses Rennen ist kein Sprint, bei dem man ständig aufmerksam auf die anderen schaut, um zu reagieren. Es ist eher wie Domino: Ab dem Start läuft ein weitgehend determiniertes Spiel ab - soweit alles nach Plan geht. Also brauche ich mich auch nicht verrückt zu machen, sondern folge einfach meinem "Plan". Reagieren muss man nur, wenn etwas schief läuft (Wetter, Pannen, Wehwehchen, falsche Planung...). Ein ziemlich lässiger Rennmodus: Das eigentliche Rennen findet fast vor dem Start statt...

Bei der nächsten Abfahrt überfahren wir ein paar Unebenheiten - und plötzlich höre ich ein zyklisches Rauschen vom Vorderrad. Mist, ein Platter. Gerade noch rechtzeitig, bevor sämtliche Luft endgültig aus dem Reifen entwichen ist, bekomme ich Argos zum Stehen und mache mich direkt an die Reparatur. Obwohl ich weiß, dass ich alles notwendige dabei habe (und das wirklich nicht zum ersten Mal mache), bin ich am Anfang doch irrational nervös. Aber das Loch ist schnell gefunden: Keine Perforation, sondern ein "Snakebite": Zwei nebeneinander liegende Löcher an den Seiten des Schlauchs, die entstehen können, wenn man mit zu wenig Reifendruck über eine Unebenheit fährt. Der gute Continental GP5000 ist damit rehabilitiert - und ich nehme mir vor, häufiger meinen Reifendruck zu prüfen. Während ich flicke, überholt mich ein weiterer Mitfahrer. Ich bin immer noch gelassen, aber langsam soll auch ich Land gewinnen. Endlich geht es weiter und ich freue mich auf einen Tag abrollen in die Po-Ebene.

Zwei schnelle Mitfahrer


Flicken

Auf den nun anstehenden 75 Kilometern nach Bozen geht es von gut 800 auf 260 hm runter - gemütliches Treten reicht für eine ansehnliche Reisegeschwindigkeit - sehr angenehm. Entsprechend schnell passiere ich Brixen und Klausen, bevor sich bei Bozen das Tal weitet. Während bisher noch alles reichlich nach Bergen aussah, mutet Bozen für mich schon vergleichsweise mediterran an. Vielleicht liegt das aber auch an den Temperaturen, die inzwischen an die 30 Grad gehen... An einem Brunnen fülle ich meine Flaschen nach und weiter geht es, nun durch zahlreiche Apfelplantagen. Die guten Südtiroler Äpfel - Argos ahnt offenbar, was in mir vorgeht, und fährt einfach weiter. Ansonsten könnte ich wohl kaum der Versuchung widerstehen...


Zum Reinbeißen. Aber Äpfel stehlen soll ja zuweilen böse Folgen haben...


Noch gute Laune

Die nächste Stadt hinter Bozen ist Trento, nach ungefähr 60 Kilometern. Irgendwo auf dem Weg dorthin kommt mir der Schwung abhanden. Ich fühle mich ziemlich langsam, was der Blick auf den Tacho leider bestätigt: Dafür dass es geradeaus bzw. leicht bergab geht, sollte ich eigentlich schneller sein. Ob es daran liegt, dass das Thermometer inzwischen über 30 Grad zeigt? Oder daran, dass meine Riegel vor 1 1/2 Stunden zu Ende gegangen sind, und ich seitdem nichts mehr gegessen habe? Irgendwann schaue ich auf die Bäume und mir wird klar: Gegenwind. Ich werfe einen bangen Blick auf die Wetterapp - und meine Stimmung rutscht eine gute Etage tiefer: Ein stabiler Südwind weht das Tal herauf; davon werde ich etwas haben, bis ich in knapp 100 Kilometern das Südende des Gardasees erreicht habe und nach Westen abbiege. Oh je. In Trento fülle ich wieder meine Flaschen nach (insgesamt 2 Liter) und kaufe mir drei große Stücke Pizza für unterwegs sowie etwas Gebäck und ein Chinotto (eine sehr aromatische Bitterorangenlimonade) für sofort. Danach geht es wieder etwas besser, aber ich bin trotzdem nicht zufrieden. Eigentlich sollte ich hier mit über 30 entlang segeln... Ob es wirklich die richtige Entscheidung war, durch die Po-Ebene zu fahren? Immerhin ist es ein traumhafter Tag, ich versuche mich abzulenken und denke daran, dass ich die noch verbleibenden 80 Kilometer bis zur Richtungsänderung in spätestens 3 - 3 1/2 Stunden hinter mir haben werde - das ist ja gar nicht mehr so lange hin... Na, ob solche Überlegungen die richtige Ablenkung sind? Zum Glück schreibt meine Schwester mir gerade in diesem Moment ein paar aufmunternde Worte. Endlich verlässt die Straße irgendwann das Tal, zieht sich durch ein paar Hügel hinauf, biegt um eine Kurve und vor mir liegt der Gardasee. Bei dem Anblick verbessert sich meine Laune schlagartig, zumal der Wind sich wie durch Geisterhand gelegt hat. Vielleicht doch eine ganz gute Route? Von Peschiera del Garda bis Desenzano del Garda fahre ich nahezu vollständig am Südufer des Sees entlang. Irgendwie gefällt es mir schon, aber es ist doch ziemlich touristisch und gefühlt hat jedes zweite Auto ein deutsches Kennzeichen. Und es gibt viele Autos. Feierabendverkehr im Badeurlaub? Als ich die Touristen hinter mir gelassen habe, wird mir bewusst, dass ich vor lauter Eile den ganzen Tag noch keinen Caffè getrunken habe. Bei der nächsten Bar wird dieser Umstand mit einem doppelten Espresso korrigiert, dazu gibt es eine Cola, ein paar Cannoli und zwei große Panini für unterwegs. Und dann geht es in die Ebene und wird endlich ruhiger.

Der erste Blick auf den Gardasee




Die Po-Ebene ist unter Radfahrern nicht gerade beliebt, weil man oft auf stark befahrenen Straßen unterwegs ist. Ich habe aber Glück und werde über Strade Provinciale, gewissermaßen kleinere Bundesstraßen geführt, mit überraschend wenig Verkehr. Für die idyllische Radtour ist es vielleicht nicht das richtige, aber ich will Strecke machen und dafür es ist absolut perfekt: Auf gutem Straßenbelag geht es auf direktem Wege nach Westen. Windstill und topfeben. Inzwischen ist es kurz vor acht und die Sonne steht tief und taucht alles in ein goldenes Licht. Es ist nicht mehr so heiß, ich liege in den Aerobars und fliege mit über 30 km/h nach Westen - und bin so zutiefst zufrieden wie lange nicht mehr. Eigentlich war das Tagesziel, bis ca. 40 Kilometer vor Mailand zu fahren und draußen zu biwakieren. Aber die Beine laufen so gut, dass ich es mir anders überlege: Die zwei Stündchen bis Mailand kann ich dann auch noch machen - und mir zur Belohnung wieder ein Zimmer nehmen. Schnell finde ich das perfekte Hotel: Ein Ibis mit 24 h - Rezeption und frühem Frühstück. Entsprechend motiviert trete ich in die Pedale. Gegen 0 Uhr passieren wir Milano Centrale, den Hauptbahnhof, als mir bewusst wird, dass mein letztes Panino schon ein paar Stunden zurück liegt und ich auf jeden Fall noch etwas essen sollte. Mein Hotel ist in einem etwas ruhigeren Viertel, aber gottseidank finde ich einen kleinen Laden, in dem ein Pakistani auf 8 Quadratmetern allen möglichen Krimskrams verkauft. Nach kurzem Zögern gebe ich mir einen Ruck und entscheide mich für die Full Fat - Full Carb Lösung: Eine Tüte Kartoffelchips. Im Hotel erlaubt man mir wie selbstverständlich, Argos mit aufs Zimmer zu nehmen. Dort esse ich mit Genuss die Chips, was sich, zu meinem Erstaunen, in dieser Situation fast wie ein richtiges Essen anfühlt. Und nach einer schnellen Abendroutine (Kleidung waschen, duschen, Zähneputzen) strecke ich mich wohlig auf dem Bett aus und schlafe in kürzester Zeit ein.

348 km, 1166 hm, 26.3 km/h.

Wieder gute Laune



Orzinuovi



Milano

Milano Centrale


Feierabend


Sonntag, 16. August 2020

TPBR 2020: Tag 2 (Admont - Bruneck)

Als um 6.30 Uhr mein Wecker klingelt, bin ich bereits wach. Die erste Nacht draußen schlafe ich immer sehr leicht (wenn ich denn wirklich schlafe...). Ich habe mich noch nicht an die Geräusche gewöhnt und bin auch noch nicht müde genug, um dennoch zu schlafen. So habe ich in der Nacht, neben allem möglichen Geraschel, auch immer wieder die Stimmen bzw. rasselnden Freiläufe von Mitfahrern gehört, die an mir vorbei fuhren. Natürlich lasse ich mich ungern überholen, aber ich hatte mir fest vorgenommen, die erste Nacht zu schlafen - schließlich muss ich noch eine Woche durchhalten. Etwas unruhig bin ich aber doch, als ich im Morgendunst meine Sachen zusammen packe. Auf welcher Position ich wohl bin? Immerhin fühle ich mich einigermaßen erholt. Nachdem alles verpackt ist, schlinge ich noch einen halben Döner vom Vorabend herunter und endlich geht es los - ach neee, ich brauche noch Wasser. Na gut, ungefähr einen knappen Kilometer in Gegenrichtung gibt es einen Brunnen, also dann schnell. Während ich meine Flaschen nachfülle, radelt ein Mädchen auf einem bepackten Rennrad an mir vorbei - sie sieht schwer nach Mitfahrerin aus, sicher bin ich mir aber nicht. Aber wer radelt hier schon sonst um 7.15 Uhr mit so einem Setup entlang?

Mein heimeliges Schlafplätzchen der ersten Nacht - danke Billa!


Als ich endlich unterwegs bin - in der richtigen Richtung - erwecke ich mein Handy aus dem Flugmodus und wage einen flüchtigen Blick auf die Trackerseite. Das darf doch wohl nicht wahr sein?! Bin ich wirklich -? Ich bin unter den fünf letzten! Unvermittelt schalte ich das Display aus, das gibts doch gar nicht! Ich bin doch eigentlich ein starker Fahrer, es ist doch unmöglich dass ich fast die  Lanterne Rouge bin. Ärgerlich und enttäuscht radle ich gen Westen, den anderen hinterher. Normalerweise scheint es mir stets, als ob die Nacht auf wunderbare Weise die Welt für uns reinigt, heute aber habe ich kein Auge für den traumhaften Morgen. Auf diese sch...-Trackerhomepage schaue ich so bald nicht mehr, soviel steht fest. Allmählich wird mir klar was passiert ist: Die meisten sind ganz einfach die Nacht durchgefahren. Ich wusste, dass die Top-Leute das machen. Aber fast das ganze Feld? Wie stark sind die denn bloß, dass sie sich das zumuten / -trauen? Na das kann ja heiter werden. Ich bin so aufgewühlt, dass ich Argos, ausnahmsweise mal die Stimme der Vernunft, kaum höre: "Beruhige Dich, wir haben einen guten Plan, wenn wir unsere Tagesziele schaffen, werden wir ganz sicher nicht die Letzten werden.". Gerne möchte ich ihm glauben, aber doch bin ich unzufrieden. Ein paar Freunde erkundigen sich per Whatsapp nach meinem Befinden, knurrig beschreibe ich meine Lage. Rüdiger hat den einzig vernünftigen Rat: "Tritt in die Pedale!".

So erreichen wir nach rund 3 Stunden Schladming, und obwohl ich am liebsten weiterreiten möchte, biegt Argos auf den Parkplatz einer Bäckerei. "So, Frühstück - das ist gut für Dich!", ruft er mir munter zu und schüttelt mich von seinem Rücken. Also gut. Ich bestelle zwei Kaffee, Topfenstrudel, ein großes belegtes Brötchen und noch ein paar Rosinenbrötchen und Nussschnecken für unterwegs. Trotz der Eile fällt mir auf, wie gut alles schmeckt - hach, du liebes Österreich! Als ich wieder auf Argos sitze, habe ich tatsächlich bessere Laune. Was Topfenstrudel und Kaffee nicht alles bewirken können. Im Ort sehe ich einen Mitfahrer, der offenbar auf der Suche nach etwas ist. Na immerhin, einen habe ich wieder überholt...

Nach rund einer Stunde fängt es an zu regnen. Ein Blick auf das Regenradar bestätigt den Eindruck, den die dunklen Wolken vermitteln: Das wird ein Weilchen dauern. Also schnell anhalten und Regensachen an, je früher desto besser: Regenüberschuhe, kurze Regenüberhose, Regenjacke. Damit bleibt man zwar beim besten Willen nicht trocken, aber es bewahrt einen vor dem Auskühlen. So geht auch die erste richtige Abfahrt nach Sankt Johann im Pongau über 400 hm ganz gut. Kurz danach führt meine Route auf dem Tauernradweg einen knackigen Anstieg hinauf. Ich kenne dieses Stück von der Tour mit Reinhold vor ein paar Jahren. Mitten im Anstieg kommt mir ein Mitfahrer entgegen. "Müssen wir wirklich da rüber?", fragt er mich ungläubig. Obwohl es gegen das Ethos des Rennens ist (Mitfahrer sollen weder Ausrüstung, noch Verpflegung, noch Informationen miteinander teilen), erkläre ich ihm, dass die Straße im Tal eine reine Autostraße und für Fahrräder gesperrt ist, und wir daher tatsächlich oben lang müssen. Und schon geht es weiter. Auf der anderen Seite sausen Argos und ich mit Freude hinunter, zurück ins Tal. Die Beine laufen gerade ziemlich gut, im gestreckten Galopp überholen wir noch einige Mitfahrer und nach 1 1/2 h erreichen wir Ferleiten. Hier ist die Mautstation, an der die Großglockner Hochalpenstraße beginnt. Inzwischen scheint wieder leicht die Sonne und ich bereite mich auf die nun anstehenden 15 km mit 1400 hm vor, indem ich die Regensachen ablege, mich mit Sonnencreme einschmiere (es ist wirklich eine Schmiererei) und ein Rosinenbrötchen nehme. Hu-ha, niemand hat uns überholt, also los.

Es ist das dritte Mal, dass Argos und ich hier rauf kurbeln, und doch bin ich wieder überrascht von der nachdrücklichen Steilheit der Straße. Wohl wegen des wechselhaften Wetters sind Gottseidank nicht so viele Autos und Motorräder unterwegs. Sehr angenehm. Bald verfalle ich in diesen glücklichen Zustand, in dem sich der Geist mit sich selbst beschäftigt und man ohne großes Nachdenken einfach weiter fährt. Bis ich eine Rennradlerin vor mir sehe. Ordentlich bepackt und in Warnweste kämpft sie sich mit superniedriger Trittfrequenz nach oben. Verstohlen schaue ich auf ihren Antrieb - oh je, das sieht nach ziemlich klassischer und berguntauglicher Rennradübersetzung aus - 36-30 vielleicht? Zum Vergleich: Ich fahre  30-34. "Das kostet richtig Kraft.", denke ich mitleidig. Unser RaceCap sehe ich nicht, also quatsche ich sie munter an: "Na, wo fährst Du denn hin?" - "Na, nach Nizza fahre ich...". Genau wie ich macht Daniela zum ersten Mal bei einer solchen Veranstaltung mit. Wir unterhalten uns kurz, hauptsächlich darüber, wie sausteil diese Straße doch ist, und versichern uns gegenseitig, dass wir nicht aufgeben werden, auch wenn es bis Nizza etwas länger dauern mag. Als die Straße noch etwas steiler wird, schalte ich mit schlechtem Gewissen einen Gang runter - ihr sind die Gänge schon lange ausgegangen - und ziehe, mich verabschiedend, davon. Am Abzweig zur Edelweißspitze treffe ich Michael Wacker (den Veranstalter), der Fotos von den Teilnehmern macht. "Na, das sieht ja noch gut aus.", ruft er mir zu. "Fühlt sich aber nicht so an.", antworte ich schnaufend. "Warte mal ab, da vorne schieben gleich welche...". Zuerst überhole ich einen einzelnen Mitfahrer, der aussieht, als würde er gleich vom Rad fallen. "Na, alles klar? Wo bist Du denn heute Morgen gestartet?", frage ich ihn. "Heute Morgen? Ich bin die Nacht durchgefahren..."... Während die eigentliche Passstraße super ausgebaut ist, bestehen die letzten 1.7 km zur Edelweißspitze (Stichstraße) aus grobem Kopfsteinpflaster mit bis zu 15 % Steigung. Alter Schwede! Als ich an den beiden schiebenden Mitfahrern vorbei komme, möchte ich auch am liebsten absteigen. Stattdessen schicke ich ein Stoßgebet zur Madonna del Ghisallo, der Schutzpatronin der Radfahrer, und komme schließlich irgendwie auf der Edelweißspitze auf 2571 m ü. NN an. Ich binde Argos an, schnappe mir meine Regenjacke (gleich wird es kalt) und betrete taumelnd vor Anstrengung und dünner Luft die Hütte. In Rekordzeit tischt der Wirt mir einen Teller Spaghetti Bolognese, einen gemischten Salat und eine große Apfelschorle auf und in Rekordzeit verputze ich alles. Für den Weg kommen noch zwei Speckbrote mit und weiter geht es.

Die Mautstelle in Ferleiten



Der Blick zum Fuscher Törl

© Adventure Bike Racing

Das Beweisfoto von der Edelweißspitze (ist wirklich nur Sonnencreme in der Nase)...

Die nächsten 8 km geht es hochalpin ab und auf, die Straße bleibt ständig über 2250 m, bis es kurz vor dem Hochtor, dem Beginn der echten Abfahrt, zu regnen beginnt. Brrr, bitte keine Regenabfahrt. Aber es soll so sein. Also Regensachen an, zusätzlich Beinlinge, Daunen- unter die Regenjacke, lange Handschuhe und Attacke. Die Abfahrt ist schnell, bei guten Bedingungen kann man hier locker 80 fahren. Heute peitscht mir der Regen ins Gesicht und der Wind gibt sein Bestes, Argos und mich von der Straße zu pusten. Von den Knien abwärts bin ich in kürzester Zeit durchnässt - nicht die besten Bedingungen. Und doch brettere ich jauchzend ins Tal, mit einer Mischung aus Schmerzen, Trotz und Begeisterung - was für intensive Dinge man doch erleben kann! Etwa nach der halben Abfahrt beruhigt sich das Wetter wieder und mir kommen einige Mitfahrer entgegen. Die Armen, im Unwetter hoch fahren ist zumindest für die Moral noch schwieriger... Ich bin froh, dass ich es hinter mir habe. In Winklern, dem Talort, lege ich an der selben Stelle meine Regensachen ab, wo ich dies auch vor einem Jahr, auf dem Weg nach Griechenland gemacht habe. Nostalgische Gefühle. Schnell noch ein Speckbrot und schon kommt der nächste Anstieg.

Im Hochtor-Tunnel

Der Großglockner ist ein scheuer Geselle (die Spitze rechts in der Wolke)


Der letzte richtige Pass des Tages

Als ich in Lienz einen Mc Donald's sehe, ist es gerade 20 Uhr - perfekt. An Ort und Stelle verspeise ich ein Maxi-Menü mit einem exotischen Burger und nehme mir vor, von nun an nur noch auf die Klassiker zu vertrauen. Immerhin habe ich das ultimative legale Dopingmittel bestellt - Cola, ahhhh. Alltags trinke ich so gut wie nie Cola, aber bei langen Radtouren gibt es kaum etwas, was mich mehr erfrischt. Zucker, Koffein und Kohlensäure... Noch ein paar Cheeseburger für unterwegs und für die Nacht und weiter. Nur noch 80 km bis Bruneck, dem heutigen Tagesziel meines optimistischen Szenarios. Motiviert trete ich in die Pedale. Das ist ja ein Katzensprung, in spätestens 4 Stunden werde ich da sein... Die ersten 25 km steigt die Straße mit knapp 2 % an. Kein Drama, aber ich komme doch langsamer voran, als ich mir wünschen würde. Kurz bevor es vollends dunkel wird, beginnt wieder der Regen und schwemmt meinen Optimismus ins Tal. Heute hätte ich gerne eine Unterkunft, aber ob ich zu dieser Zeit noch etwas in Bruneck finde? Auf Booking sehe ich ein Hotel, wo die Rezeption bis 24 Uhr geöffnet sein soll - hurra! Vorsichtshalber rufe ich an und erkläre, dass ich eventuell erst gegen viertel nach 12 da sein werde, da ich mit dem Fahrrad reise. Was der Herr wohl denken mag? Jedenfalls alles kein Problem, ich solle einfach kommen. Puh. Um kurz vor 12 komme ich tatsächlich an. Es ist ein nettes Hotel mit einem sicheren Platz für Argos und einer warmen Dusche für mich. Schnell (zumindest versuche ich es) wasche ich meine Sachen und hänge sie zum trocknen, esse noch einen Cheeseburger und falle dankbar in mein sauberes Bettchen.

334.4 km, 4433 hm, 21.7 km/h.