Donnerstag, 5. November 2020

TPBR 2020: Tag 7 (Buis-les-Baronnies - Nice)

Eine knappe Stunde nachdem ich mich hin gelegt habe, dringt, zunächst entfernt, dann immer näher, Freilaufrasseln in mein dämmerndes Bewusstsein: Mitfahrer! Wer sonst würde hier Freitag um kurz vor 6 entlang radeln? Ich versuche weiter zu schlafen so gut es geht, aber bin doch mindestens halb aufgewacht. Dieser Tage ist mein Körper in einer merkwürdigen Alarmbereitschaft, ständig zwischen Jagd und Flucht. Kurz darauf kommen die ersten Autos sporadisch die Straße entlang gefahren - sssschchchchwwwbrrrrwwwwschchchsss - und ich bin vollends wach. Was soll's. Ich bin mitten im Ort und muss irgendwie meine Schlaf-Boxershorts aus- und meine Fahrradhose anziehen. Vielleicht ist jetzt gar kein so schlechter Zeitpunkt dafür, wenn ich es nicht endgültig vor Publikum machen möchte. Etwas staksig steige ich in meine klamme Fahrradkleidung und packe meine Sachen, mit trotziger Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen, die allmählich beginnen ihren Geschäften nachzugehen. Wenn die wüssten, was für eine albtraumhafte Nacht ich hinter mir habe. So bin ich einerseits erleichtert, als Argos und ich wieder los rollen: Endlich hat dieser Schrecken ein Ende. Wenn ich aber daran denke, was nun vor mir liegt, wird mir angst und bange: Bis Nizza sind es rund 400 km - und über 5000 hm. Ich bin bisher einmal 400 km in einem Rutsch gefahren, von Düsseldorf nach Hamburg. Frisch und bestens ausgeruht, mit kontinuierlichem Rückenwind durch die norddeutsche Tiefebene. Jetzt habe ich in bisher 5 1/2 Renntagen knapp 1800 km zurück gelegt und die letzte Nacht eine Stunde "geschlafen"... "Keine Panik, Ruhe bewahren. Schau nicht auf das große Ganze, konzentriere Dich nur auf das, was jetzt gerade vor Dir liegt. Alles kann, nichts muss. Guck mal, es wird ein schöner Tag! Wie wäre es mit Frühstück? Die Boulangerie sieht gut aus.", muntert Argos mich auf. Weise Worte von meinem treuen Gefährten, und ein feines Näschen für gute Backwaren hat er auch noch. Ich kaufe alles, was ich an duftenden Croissants, Pain au Chocolat, Pain au Raisins und Baguette eben transportieren kann und hinter der nächsten Ecke finde ich tatsächlich ein Café, was bereits geöffnet hat. Ob das Schicksal diese Schreckensnacht wieder gut machen möchte? Bei dem munteren Barmann bestelle ich drei Cafés, die ich im Stehen nehme. Immer noch etwas wackelig, stelze ich zurück zu Argos - Zeit für die Morgenapotheke. Eine Magnesiumtablette, ein Beutel Elektrolyte (Magnesium ist auch nicht alles im Leben), ein paar Vitamine, ein Beutel Maaloxan und, zur Feier der überstandenen Nacht, Paracetamol (tatsächlich habe ich etwas Kopfweh - keine Sorge, es ist das erste Mal im Rennen). Vor den Augen der männlichen, etwas in die Jahre gekommenen Stammkundschaft des Ladens spüle ich meinen Medikamentencocktail herunter und bin fast überrascht, dass ich keinen Kommentar bekomme. Aber was sollen die Herren mit ihren Frühstücksschnäpsen auch schon sagen...

Als wir wieder losrollen, fühle ich mich verblüffend gut - Koffein, Kohlenhydrate und Paracetamol - es gibt einen Grund, warum es ganz oben auf der Wunderliste steht. Aber es ist auch ein wunderschöner Tag und schlicht eine traumhafte Gegend, lieblich, friedlich und abwechslungsreich. Ich hatte das immer für ein Klischee gehalten, aber tatsächlich duftet es überall nach Kräutern und Lavendel. Trotz der Strapazen der letzten Tage ist das Radeln hier ein reiner Genuss. Und so legen sich auch meine Unruhe und Sorgen über das, was vor (und hinter) mir liegt. Im Moment ist alles bestens und um alles andere kümmere ich mich, wenn es soweit ist. Der erste Pass des Tages ist zugegebenermaßen nicht allzu hoch, aber dafür geht er auch wie von selbst. Von oben fällt mein Blick ein letztes Mal zurück zum Mont Ventoux, dem "Giganten der Provence". Aber dann ruckt Argos ungeduldig in die Abfahrt und zwingt mich, nach vorne zu schauen - in Richtung Nizza.

Ein neuer Tag



Auf der Straße

In der Ferne der Mont Ventoux

Ein gutgelaunter Landstreicher

In Richtung Nizza

Die nächsten 50 Kilometer bis Sisteron geht es hauptsächlich bergab oder ist es eben. Sehr angenehm, auch mal mühelos und zügig einige Kilometer abzureißen - noch dazu in dieser traumhaft schönen und abwechslungsreichen Gegend. So erreiche ich Sisteron bestens unterhalten gegen viertel vor zwölf. Bis zur nächsten Ortschaft sind es über 50 km und dazwischen liegt ein einsamer Pass zur heißesten Zeit des Tages - sensationelles Timing. Im Renn-Handbuch wurde sogar extra darauf hingewiesen, sich in Sisteron nochmals ausreichend mit Proviant und vor allem Wasser zu versorgen. Also verlassen Argos und ich die vorgegebene Route und betreten die Altstadt. Sisteron ist ein nettes Örtchen und dementsprechend sind viele Touristen unterwegs. Etwas irritiert von der ungewohnt hohen Menschendichte finde ich gottseidank bald einen tollen Eisladen mit lokalen Sorten wie Lavendel und Génépi (Edelraute, woraus man in den Westalpen einen wunderbaren Likör macht...). Ich mache der freundlichen Dame ein Kompliment und frage sie nach der nächsten Boulangerie, woraufhin sie mich ans andere Ende des Ortes schickt - die anderen Läden seien... sie schaut widerwillig. So schiebe ich Argos quer durch den Ort, aber dafür werde ich tatsächlich mit einer außergewöhnlichen kleinen Bäckerei belohnt, in der es allerlei lokale Spezialitäten zu kaufen gibt. Und der Rückweg zu dem Punkt, an dem ich die Route verlassen habe (darauf wird peinlichst geachtet), kommt mir dann auch gar nicht mehr so lang vor.




Eine willkommene Erfrischung

Bei Sisteron

Hinter Sisteron geht es zunächst ein paar Kilometer auf und ab, bis der eigentliche Anstieg zum Pas de la Graille über die Montagne de Lure beginnt. Ich merke aber schon, wie unbarmherzig warm es ist - irgendwas zwischen 33 und 35°C. Eigentlich möchte ich die ganze Zeit trinken, aber bis zur nächsten Wasserstelle sind es noch über 45 km. Wieso habe ich nicht einfach eine Flasche Wasser gekauft, anstatt auf meine 1.75 l zu vertrauen? Es kommen noch ein paar kleine Ortschaften, aber anders als bisher in Frankreich, wo es immer und überall Trinkbrunnen gab, gibt es hier nichts - weder eine Quelle, noch einen Kiosk. Ich überlege schon, ob ich einfach jemanden um Wasser bitte. Aber in dieser Mittagshitze ist schlicht keine Menschenseele draußen zu sehen. Sollte meine Karte, in der hier keine Wasserstellen verzeichnet sind, wirklich Recht behalten? Gottseidank nicht. In Valbelle sehe ich einen anderen Rennradler, der sich am Straßenrand an einer kleinen Säule zu schaffen macht. Ein Holländer, der seine Ferien hier in der Gegend verbringt - und der findige Bursche hat tatsächlich einen Trinkbrunnen entdeckt. Erleichtert trinke ich mir den Bauch voll und bin dankbar, dass er hier stand - ohne ihn hätte ich die Quelle nicht gesehen.

Nach einer kurzen Unterhaltung geht es weiter, und nun beginnt auch der eigentliche Anstieg. Über 10 Kilometer schlängelt sich die Straße in westlicher Richtung durch die Flanke des Gebirgszuges bergan, bevor die eigentlichen Serpentinen beginnen. Die Straße ist kaum befahren, es geht durch einen luftigen Nadelwald. Sind das Kiefern? Die Steigung schwankt zwischen 4 und 6 % - also nicht besonders steil. Aber die Straße ist in weiten Bereichen zentimeterdick mit Split bedeckt, an manchen Stellen riecht es in der Hitze unangenehm nach Bitumen. Argos kommt im Split schon ins Schlingern und bald ertappe ich mich bei dem Gedanken: "So ein Elend!". Wegen der moderaten Steigung gewinnen wir nur langsam an Höhe, wegen des Splits ist es dennoch mühselig, es ist heiß, es stinkt und wegen der Bäume, welche die Straße säumen, kann man noch nicht einmal die Aussicht genießen. Schnell ist mir klar: Dieser ist der bescheuertste Pass des Rennens. Irgendwann kommt mir ein französischer Rennradler, schimpfend über die Verhältnisse, entgegen. Nachdem ich bei Schrittgeschwindigkeit schon Schwierigkeiten habe, Argos aufrecht zu halten, möchte ich gar nicht wissen, wie es in der Abfahrt ist. Etwa auf halbem Wege von der Quelle zum Pass habe ich bereits mehr als die Hälfte meines Wassers getrunken und bin immer noch äußerst durstig, als ich an einem Bach vorbei komme. Oh süße Verlockung. Ich sehe mir das Bächlein einen Moment lang an. Frisch und klar fließt das Wasser durch sein steiniges Bett. Kein menschengemachtes Geräusch ist zu hören. Wer sollte dieses Wässerchen schon getrübt haben? Außerdem habe ich doch einen robusten Magen, und schlimmstenfalls wird meine Reiseapotheke es schon richten. Wieder trinke ich, so viel ich kann - es schmeckt ganz köstlich - fülle meine Flaschen und weiter geht es.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen wir endlich den Pas de la Graille. Von hier kann man immerhin ein wenig ins Land schauen. Aber bis zum höchsten Punkt sind es merkwürdigerweise immer noch 150 hm... Als diese geschafft sind, genehmigen Argos und ich uns eine kurze Pause, während der ich mit Begeisterung ein paar Backwaren verputze. Köstlich gestärkt geht es in die Abfahrt. Gottseidank gibt es nur auf der Nordrampe Split, die Südrampe hat einen wunderbar griffigen Straßenbelag. Viele kleine, leicht überhöhte Kurven, die mit kurzen Geradenstücken verbunden sind, die Straße leicht wellig - es ist wie in der Achterbahn, ein Riesenvergnügen. So schnell wie ich diese Auffahrt ganz unten einsortiert habe, so schnell ist klar, dass diese die beste Abfahrt des Rennens ist (Großglockner und Simplon im Regen, Mont Ventoux in der Nacht...). Scharf anbremsen, Argos verbeißt sich in die Kurve, dann ganz klein machen - 55, 60, 65... Plötzlich, auf einer Geraden, trifft mich etwas an der Schläfe, wildes Summen direkt vor meinem Ohr, ein stechender Schmerz und weiter aufgeregtes Summen. Ich lege eine panische Vollbremsung hin, schüttele aufgeregt den Kopf, aber das Summen hört nicht auf. Nach verblüffend langer Zeit komme ich endlich zum Stehen und schlage ohne nachzudenken, unkoordiniert nach dem Geräusch, woraufhin meine Sonnenbrille auf die Straße segelt. Das Summen geht weiter. Das Helmband! Ich nehme den Helm ab, schüttele den Kopf und endlich fliegt die Wespe davon. Eigentlich bin ich nicht allergisch, aber dieser unendlich konzentrierte Schmerz in der Schläfe macht doch Eindruck. In diesem Moment schickt mir Hansjörg eine Nachricht, wie es läuft. Ohne nachzudenken schreibe ich ihm, dass ich gerade in der Abfahrt von einer Wespe in den Kopf gestochen wurde. "Im nächsten Ort gibt es eine Apotheke - ich will ein Bild von Dir darin!", antwortet er mir streng. Vielleicht eine gute Idee. Nach 5 Kilometern finde ich in Saint Étienne les Orgues die Apotheke, in der man mir empfiehlt, sicherheitshalber Ceterizin zu nehmen. Ich tue wie geheißen und schicke Hansjörg das versprochene Bild - und bin danach, trotz Schmerzen, mit einem besseren Gefühl unterwegs.






Am höchsten Punkt
Ihm sieht man die Mühen nicht an...

... Ihm dagegen schon (für Hansjörg)

Irgendwann passieren wir das Tal der Durance, wo es wieder etwas mehr Besiedelung gibt. In Oraison halte ich für ein paar Momente meinen Kopf in das Becken des Brunnens - obwohl es inzwischen halb sechs ist, ist es immer noch unglaublich warm. In einem Laden kaufe ich ein Getränk aus Milch und Saft, was ich gemütlich im Sitzen nehme. Es geht mir nicht schlecht, aber der Gedanke an eine Pause ist doch so verlockend. Ich schaue auf die Trackerseite: Vor mir sind einige Mitfahrer. Wenn ich mich ranhalte... Und etwas motivierter geht es wieder weiter. Nach 40 Kilometern, in einem Ort namens Moustiers-Sainte-Marie, halte ich auf der Suche nach einer Wasserstelle, als ein Mitfahrer sich dazu gesellt. Ohne ihn jemals getroffen zu haben, erkenne ich ihn - er ist Patrick. Ich hatte sein Bild auf der Veranstaltungshomepage gesehen und ihn aus unerfindlichen Gründen direkt sympathisch gefunden. An einem Campingplatz erbitten wir gemeinsam Wasser und fahren anschließend zusammen weiter. Ich bin gespannt, wie sich mein Bild von ihm mit der Realität deckt, und als wir uns unterhalten stelle ich fest, dass er tatsächlich genau so sympathisch ist, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Gemeinsam bewundern wir die immer felsiger werdende Landschaft, als wir im letzten Tageslicht in Richtung der Verdon Schlucht radeln. Bis ich mich nach etwa einer halben Stunde zurück fallen lasse. Man soll nicht zu lange gemeinsam fahren.

Bei La Palud sur Verdon macht unsere Strecke eine 23 km lange Schleife um einen Berg, und führt direkt an der Schlucht entlang. Bei Tag muss die Aussicht absolut spektakulär sein. Inzwischen ist es völlige Nacht, aber der Himmel ist klar und es ist kurz vor Vollmond - auch in der Dunkelheit ist es eine einmalige, beinahe magische Stimmung. An einem der zahlreichen Aussichtspunkte halte ich kurz inne, überblicke die Schlucht - und muss unmittelbar an einen Abschnitt aus dem Gedicht "Roll the Dice" von Charles Bukowski denken, was mich bei den Vorbereitungen für dieses Rennen begleitet hat: "You will be alone with the gods, and the nights will flame with fire...". Und genau so erhaben fühlt es sich an: Alle Hingabe, jeder Verzicht, alle Mühen, alles für dieses Rennen, für diese Nacht, für diesen Moment. Es ist der Höhepunkt einer phantastischen Reise, die für mich am 1. Januar begonnen hat. Als ich Patrick irgendwann wieder überhole, wechseln wir nur wenige Worte: Jeder von uns ist mit sich selber und seinen Eindrücken beschäftigt.

Gegen 23.30 Uhr erreiche ich wieder La Palud sur Verdon. Hier herrscht fröhlich-friedliche Sommerstimmung. Vor den Restaurants sitzen noch Menschen und genießen den Zauber dieser Sommernacht. Ich spüre allmählich, dass ich müde werde - und es sind noch rund 150 km bis zum Ziel. Kurzentschlossen betrete ich eine Bar und bestelle an der Theke 3 Espresso. "Trois Expresso pour vous?!", fragt mich das Mädchen, halb ungläubig, halb amüsiert. "Je dois aller à Nice, en vélo...", versuche ich mich zu erklären, woraufhin sie mich nur schräg ansieht. Dass ich seit meiner letzten Dusche 4 Tage hauptsächlich auf dem Rad verbracht habe und auch sonst recht abgekämpft aussehen muss, ist mir in diesem Moment nicht recht bewusst - oder vielleicht auch einfach egal? Ich schütte den Zucker in meinen Kaffee, rühre und puste, damit er schnell eine erträgliche Trinktemperatur erreicht, schütte ihn eilig hinunter und nach wenigen Minuten rollen Argos und ich wieder los, in die Nacht.



Die Verdon-Schlucht

Fast Vollmond

"Trois Expresso pour vous?!"

Nach einigen Kilometern stoße ich wieder auf Patrick, der mich während meiner Kaffeepause überholt hat. Ich freue mich ihn zu sehen und gemeinsam genießen wir eine kurze, kurvige Abfahrt durch die Felsen - nur fliegen ist schöner. Etwas überdreht von den Eindrücken und dem Kaffee rede ich begeistert auf ihn ein, und erst als er mir irgendwann sagt, dass er sich für ein Stündchen an den Straßenrand legen muss, wird mir bewusst, dass er offenbar müde ist - dass seine Antworten recht einsilbig waren, fällt mir erst jetzt auf. Mit Bedauern verabschiede ich mich und bin nun wieder alleine unterwegs. Noch fühle ich mich gut, aber sobald die Lichter meines Gefährten verschwunden sind, fühle ich, wie die Dunkelheit lauernd näher an mich heranrückt und ahne, dass die vergangenen 36 Stunden bald mit Macht ihren Tribut fordern werden. Früher oder später werde auch ich mich hinlegen müssen. Bald passiere ich einen Mitfahrer, der sich an einer Kreuzung umzieht. Während die Begegnungen mit Patrick von Kameradschaft geprägt waren, gibt der gegenseitige Anblick uns beiden dieses Mal einen Adrenalinschub: Während ich sofort stärker in die Pedale trete, wird er plötzlich hastig, schwingt sich auf sein Rad und beginnt die Verfolgung. Wie ein Tier gebe ich mich meinen Instinkten hin, erhöhe irrsinnig das Tempo, schwankend zwischen Entsetzen und Euphorie, während mein Bewusstsein weit aus dem Hintergrund dieses archaische Schauspiel genießt. Endlich wird das Flackern seines Schweinwerfers weniger, und nach einer Viertelstunde ist er verschwunden - ich bin entkommen. In Castellane beeile ich mich, meine Trinkflaschen zu füllen, aber bevor mein Jäger mich einholt, bin ich wieder unterwegs.

Nach wenigen Kilometern sehe ich dann eine Gestalt vor mir, die merkwürdig langsam fast in Schlangenlinien fährt und, mit verschiedenen Blinklichtern ausgestattet, buchstäblich aussieht wie ein fahrender Christbaum. Ein Mitfahrer - nun bin ich der Jäger. Zügig fahre ich auf die Gestalt auf und quatsche sie munter an. "Eine Mitfahrerin", wird mir plötzlich bewusst: Angela kommt aus Norditalien ist eigentlich Lehrerin, rund 15 Jahre älter als ich und hat schon einige Ultraradrennen erfolgreich bestritten. Während ich bisher jede Nacht ordentlich geschlafen habe, war ihre Strategie, mehr oder weniger durchzufahren, und nur bei Bedarf ein, zwei Stunden am Straßenrand zu ruhen. Kein Wunder, dass sie Schlangenlinien gefahren ist. Aber während wir uns halb auf Englisch, halb auf Italienisch unterhalten, erwachen ihre Lebensgeister und erlischt mein Jagdinstinkt. Eigentlich ist es viel angenehmer, nicht alleine durch die Nacht zu fahren... Aber Angela ist streng und nach 20 Minuten schickt sie mich fort - man darf eben nicht länger zusammen fahren. Also fahre ich vor und kurbele mich den nächsten Pass empor. Kurz vor der Passhöhe fällt die Temperatur schlagartig um 5 Kelvin. Als ich anhalte, um Bein- und Armlinge anzulegen, kommt Angela vorbeigefahren, die bereits warm angezogen ist. In der folgenden Abfahrt hefte ich mich an ihr Rücklicht: Mit einer Mischung aus Perfektion und Todesverachtung stürzt sie sich im funzeligen Licht Ihrer Lampe in die enge, kurvige Abfahrt, dass Argos sich strecken muss, ihr auf den Fersen zu bleiben. Es ist immer eine besondere Freude, in der Linie eines Könners zu fahren. Als wir unten sind, mache ich ihr ein ehrliches Kompliment, woraufhin sie mit ihrer dunklen Stimme herzlich lacht und bestätigt, dass sie Passabfahrten liebe - besonders im Winter...

Angela in der Abfahrt

Irgendwann muss ich etwas Wasser loswerden und lasse sie alleine weiterfahren. Kaum ist sie weg, stürzt die Dunkelheit über mir zusammen, wie eine tosende Welle. Ich bin in einem dichten Nadelwald, den kein einziger Strahl des Mondlichts durchdringt. Irgendwo auf den Serpentinen unter mir flackert ein Scheinwerfer durch die Bäume - und gruselig erwacht mein Fluchtinstinkt. Ich gebe Argos die Sporen und kurbele wie ein Besessener durch den dunklen Wald - hoffentlich sehe ich bald Angelas Lichter vor mir. Wie weit kann sie denn bloß in 2 Minuten gekommen sein?? Irgendwann sehe ich ein Fahrrad vor mir - um dann erstaunt zu erkennen, dass es ein anderer Mitfahrer ist. Mit knappem Gruß und großzügigem Geschwindigkeitsüberschuss schieße ich an ihm vorbei. Ungläubig versucht er, sein Tempo zu erhöhen, aber es ist nur ein kurzes Aufbäumen... Egal. Aber wo ist denn bloß Angela? Sie kann doch unmöglich so weit vorgefahren sein? Als ich gerade beginne zu denken, dass ihr doch wohl hoffentlich nichts passiert ist, sehe ich endlich ihre vertrauten Blinklichter vor mir. Freudig begrüße ich sie - obwohl wir uns erst seit wenigen Stunden kennen, fühlt es sich an, als würde ich eine alte Freundin treffen.

Als sich im Osten der Himmel verfärbt, sind es noch rund 40 km bis zum Ziel. Genauso schnell, wie am Abend die Nacht über uns gekommen war, zwingt nun der Tag mit Macht die Dunkelheit zurück. Bald kann ich das Meer und eine Stadt sehen - das muss doch Nizza sein? Unvermittelt ziehe ich das Tempo an, woraufhin Angela mich zurück hält: "Ruhig - es sind noch über 30 Kilometer.". Sie hat Recht. die letzten Kilometer ziehen sich wie Kaugummi, und obwohl es schon fast wieder hell ist, spüre ich jetzt deutlich die Erschöpfung. Plötzlich will aus den Beinen kaum noch Leistung herauskommen und zweimal rauschen wir beide in der Abfahrt an einer Abbiegung vorbei. Staunend sehe ich an einer Bushaltestelle einen Mann in einem schwarzen Anzug, um dann beim Näherkommen zu erkennen, dass dort keine Menschenseele ist. 15 Kilometer vor dem Ziel habe ich Schwierigkeiten, die Augen offen zu halten. Eigentlich sollte ich zumindest eine Viertelstunde schlafen - aber in spätestens 40 Minuten bin ich im Ziel... Zähne zusammenbeißen, tief durchatmen, trinken, den Kopf bewegen... 10 Kilometer vor dem Ziel merke ich, dass ich Angela verloren habe. Sie war doch gerade noch hinter mir? Egal, sie ist ein harter Knochen - um sie muss ich mir wirklich keine Sorgen machen. Endlich, hinter dem Flughafen, führt unsere Strecke auf die Promenade des Anglais, auf der auch das Ziel ist. Noch gut 3 Kilometer entlang des Meeres. Es ist 7 Uhr morgens, die Sonne ist eben aufgegangen und auf der Promenade sind die ersten Jogger unterwegs. Es ist ein wunderbarer Augenblick, aber ich kann es kaum erwarten, das Ziel zu erreichen. Als ob ein Damm gebrochen wäre, spüre ich plötzlich neben der bleiernen Müdigkeit die völlig ausgelaugten Beine, den wunden Hintern, die tauben Hände, den starren Nacken... Ein Stoßgebet: "Mach dass es zu Ende geht.".

Um kurz nach sieben kommen Argos und ich vor dem berühmten Hotel Le Negresco an - Ziel. Überglücklich begrüße ich Michael Wacker, den Rennorganisator, - und plumpse auf eine Bank, die sich absolut himmlisch anfühlt. Angela kommt nach einer halben Stunde - sie hatte sich am Ende noch einmal großzügig verfahren - und nach und nach trudeln weitere Mitfahrer ins Ziel. Es ist eine fröhliche, erleichterte Stimmung. Essen, Geschichten erzählen, lachen - ein paar Stunden genieße ich einfach den Moment, bis ich merke, dass ich beinahe im Sitzen einschlafe. Höchste Zeit ein paar Stunden zu schlafen. Mit meinem Handy buche ich ein Hotel (drei Mal rutscht es mir dabei um ein Haar aus der Hand, weil ich fast einnicke) und gegen 13 Uhr betreten Argos und ich unser Zimmer. Nach einer sehr gründlichen Dusche stelle ich mir den Wecker für in zwei Stunden, denn ich möchte den Nachmittag im Ziel verbringen und die ankommenden Mitfahrer begrüßen. Und zum vielleicht ersten Mal in meinem Leben schlafe ich, bevor mein Kopf das Kissen berührt. Von dem Wecker bekomme ich absolut nichts mit, und als ich aufwache ist es 1 Uhr nachts. Ich stehe noch einmal auf, verlasse das Hotel, esse eine Pizza, fahre zum Ziel, wo ich tatsächlich Jost treffe, der auch eben angekommen ist und gegen 4 Uhr morgens gehe ich wieder ins Hotel, um noch ein wenig zu schlafen. Gute Nacht für heute.

400 km, 5271 hm, 19.6 km/h.

Auf der Promenade des Anglais

Fühlt sich besser an als es aussieht ;)

Gleißendes Licht und ein frisch eingetroffener Mitfahrer

Samstag, 17. Oktober 2020

Two Volcano Sprint 2020: Vor dem Start

Es ist soweit: Diesen Sonntag startet der Two Volcano Sprint. Von Neapel (genau genommen von Ercolano) geht es durch Italiens Süden bis nach Catania (genau genommen nach Nicolosi). Für ein Ultraradrennen mit "nur" 1100 Kilometern eher kurz (gut halb so lang wie das Three Peaks Bike Race), aber dafür etwa die gleiche Anzahl an Höhenmetern. Während das für die schnellen Leute bedeutet, dass sie nun wirklich kein Gerödel zum Schlafen mitnehmen brauchen, heißt das für mich, dass es sehr anstrengend wird... Ich werde also nach allen Regeln der Kunst schlafen.

Ein Unterschied zum Three Peaks ist, dass die Route hier komplett vorgegeben ist - alle nehmen den gleichen Weg. Man wird also häufiger Mitfahrer sehen, und beim Dotwatching ist auch sofort klar, wer gerade auf welcher Position fährt. Apropos: Die Leute von Dotwatcher berichten auch über dieses Rennen und haben eine Tracking-Karte. Es verspricht wirklich spannend zu werden: Es sind mindestens fünf Mitfahrer /-innen dabei die eigentlich alle Topfavoriten sind. Das wird spannend zu sehen.

Argos und ich sind seit gestern hier, gottseidank hat er sein erstes Mal fliegen gut überstanden (in einem Pappkarton). Er schafft schon ungeduldig die Hufe, während ich mich heute noch in Ruhe in Neapel umgesehen habe. Morgen ist die Registrierung und Sonntag Morgen um 5.30 Uhr geht's los, den Vesuv hoch und dann die Amalfiküste entlang. Ein Traum :)

Übrigens hatte ich gehofft, den letzten Eintrag vom Three Peaks zu schreiben, bevor der 2VS beginnt - aber der letzte Tag beim TPBR war lang und ich bin schlicht nicht fertig geworden. Kommt aber bald :)

Dann drückt Argos und mir bitte die Daumen, viel Spaß beim Rennen und herzliche Grüße aus Ercolano,

Thomas


Am Horizont sieht man Capri



Frittatina - eine lokale Spezialität. Eigentlich Pasta samt Sauce frittiert. Unglaublich lecker, auch wenn Frittiertes sonst nichts für mich ist.

Die beste Pizza der Welt? Möglicherweise ist sie das.

Eine Sfogliatella, gefüllt mit Ricotta und Orangenschale. Köstlich.




Rainbow Punch (wenn ich das so verwenden darf, Rüdiger)

Und Signor Negroni war auch zugegen :)


Montag, 5. Oktober 2020

TPBR 2020: Tag 6 (Le Grand-Lemps - Buis-les-Baronnies)

Als um 7 Uhr der Wecker klingelt wache ich auf. Donnerwetter, das war eine sensationell gute Nacht – besonders für draußen in einem Maisfeld: Sofort eingeschlafen, durchgeschlafen und gut erholt, super! Wie bisher jeden Morgen in diesem Rennen, bin ich sofort wach und beginne mit der Morgenroutine. So ganz uneinsehbar wie es am Vorabend schien, ist mein Plätzchen doch nicht, aber auf dem Gehöft in rund 300 m Entfernung nimmt offenbar niemand Notiz von mir bzw. interessiert sich niemand für mich. Und inzwischen bin ich wohl auch etwas abgestumpft – und mache mich ungeniert vor ein paar vorbei fahrenden Autos fertig (wenn ich stehe, kann man mich von der Straße doch sehen). Aber wer interessiert sich schon für einen Fahrrad-Landstreicher :)

Ein wirklich angenehmes Plätzchen

Nach gut 50 Minuten sind Argos und ich wieder auf der Straße und traben los – gemessenen Tempos: Nur eben den Berg runter rollen und es gibt Frühstück im Ort. Mein Magen ist immer noch sauer (buchstäblich) und so gibt es in der örtlichen Boulangerie neben Pain au Raisins auch ein paar trockene Baguettes zum Mitnehmen. In der Bar des Amis am Marktplatz gibt es schnell noch zwei Cafés, zur Feier des Tages im Sitzen, und dann geht es weiter. Die örtliche Apotheke macht leider erst gegen 9, also in einer knappen Stunde auf – so lange kann ich nicht warten. Für 2 Kaffee und buttrige Rosinenbrötchen ist mein Magen auch noch relativ gelassen. Ich belohne seine Großzügigkeit, indem ich noch reichlich Baguette in den Tank werfe und bete, dass bald eine geöffnete Apotheke kommen möge. Ansonsten bin ich ziemlich guter Dinge: Die Nacht war super, es ist ein sonniger Tag, die Gegend ist traumhaft schön und obwohl noch über 700 km bis Nizza vor mir liegen, fühle ich mich als ob ich gleich da wäre. Und zunächst einmal steht heute eine Flachetappe an – abgesehen vom Mont Ventoux, aber der ist noch weit weg. Unterwegs überhole ich einen älteren Herrn, der auf seinem, sicher schon 40 Jahre in seinem Gebrauch befindlichen, Stahl-Randonneur flott unterwegs ist. Wie schön, dass er offensichtlich immer noch Gefallen an diesem einfachen und eleganten Hobby findet.




Wie so oft meint es das Schicksal gut mit mir: Im nächsten größeren Ort finde ich eine geöffnete Apotheke. Gottseidank! Eine Freundin, die Ärztin ist und nebenbei sagenhaft gut Französisch spricht, weil sie mit einem Franzosen verheiratet ist, hat mir geschrieben, wonach ich fragen soll. Danke, Lisa! So komme ich schnell und unkompliziert an reichlich Maaloxan, wovon ich laut Apothekerin bis zu 2 täglich nehmen darf. „Wenn sie sagt 2, sind 4 sicher okay…“, denke ich bei mir und nehme gierig die erste Packung von dem süßen, dickflüssigen Zeug. Ahhhh, sofortige Linderung. Am liebsten würde ich direkt die zweite Packung nehmen, aber reiße mich doch zusammen – erstmal sehen, wie das Zeug wirkt… Und das tut es sagenhaft gut. Während die wohltuende Wirkung von Cola bereits nach 20 Minuten nachlässt, spätestens aber, sobald ich etwas esse, wird es mit Maaloxan immer besser, je mehr Zeit vergeht. Ich bin völlig begeistert und nehme dieses Wundermittel in meine persönliche Liste der Super-Arzneien auf (neben Paracetamol und Ceterizin). Und beseelt von dem Gedanken, dass ich es dank Maaloxan sicher nach Nizza schaffen werde, fliege ich auf Argos Rücken gen Süden.

Die Straßen sind mal mehr, mal weniger schön: Ab und zu bin ich auf einer fast autobahnmäßig ausgebauten Bundesstraße unterwegs, auf der das Radfahren erstaunlicherweise erlaubt ist. Aber neben dem Seitenstreifen ist genügend Platz - halb so wild also. Inzwischen zeigt das Thermometer 36°C, die elektronischen Informationstafeln über der Straße warnen vor extremer Hitze und raten dazu, ausreichend zu trinken. Als ich in einem Ort an ein paar Leuten vorbeiradle, rufen sie mir "Très courageoux" hinterher. Aber mit der Hitze komme ich gut zurecht. Wie in einem Kokon bewege ich mich durch diese flimmernde Welt, merkwürdig gedämpft nehme ich wahr, was um mich herum passiert. Trinken, treten, essen - ich bin im Flow. In Montélimar halte ich bei einem Laden, den Hansjörg mir empfohlen hat, und kaufe eine riesige Tüte köstlichen Nougats. Damit werde ich den Mont Ventoux wohl hoch kommen. Als ich weiterfahre werde ich plötzlich merkwürdig langsam, obwohl es leicht bergab geht. Benommen schaue ich auf mein Handy: Gegenwind. Aber mehr als ein maßvolles innerliches "Ach Herrje" ringe ich mir nicht ab - die Hitze macht mich so gleichgültig. Und irgendwie geht es ja vorwärts. Und so taucht irgendwann am Horizont ein Berg auf, der alle anderen bei weitem überragt - der Mont Ventoux.


Nougat aus Montélimar

Heißer Gegenwind





Der Mont Ventoux

In einem Ort namens Caromb fülle ich meine Flaschen auf und kaufe bei einer Asiatin, die mir unbedingt ein Nudelgericht servieren möchte, ein paar einfache Sandwiches. Eins wird sofort verschlungen, und dann geht es noch rund 12 Kilometer sanft bergan - bevor ich hinter Bédoin, bei Saint-Estève, auf die Route du Mont-Ventoux komme. Die Strecke von hier zum Gipfel ist oft Teil der Tour de France und zieht sich bei durchschnittlich 8.8 % Steigung über knapp 1400 hm zum Gipfel. Ein Anstieg der höchsten Kategorie, wo es bei der Bergwertung die meisten Punkte gibt. Die Gegend hier vibriert vor Radsportbegeisterung, aus vorbeifahrenden Autos ruft man mir "allez allez" zu, ständig kommen mir Rennradler entgegen und auf der Straße sind überall Anfeuerungen für die Rennhelden zu sehen. Ich kurbele mich alleine, ruhig durch den Pinienwald empor, aber ich kann in diesem Moment ahnen wie es sein muss, in einem Rennen hier hoch zu jagen: Brennende Muskeln, rasselnde Lungen, tobende Zuschauer, Adrenalin... Welch ein brutales Spektakel! Dieser Anstieg ist tatsächlich ein Erlebnis, auch wenn man alleine unterwegs ist (bzw. die Mitfahrer abstrakte Punkte auf der Trackerseite sind). Ich nasche kontinuierlich von meinem Nougat, träume von den Dramen, die sich hier abgespielt haben und lese unermüdlich die Botschaften, die Zuschauer für ihre Favoriten hinterlassen haben, bis der Pinienwald sich irgendwann lichtet und ich das Chalet Reynard erreiche. Von hier geht es durch das charakteristisch weiße Gestein dem Gipfel entgegen. Er sieht zum Greifen nah aus, aber es sind noch über 6 km und 450 hm durch diese Mondlandschaft.


In Caromb

Allez! Allez! Allez!



Inzwischen hat sich die Dämmerung über die Provence gelegt, und als ich endlich den Gipfel erreiche, ist es fast Nacht. Was für ein Ort: Trotz der einsetzenden Dunkelheit kann man unglaublich weit ins Land blicken, auf dem Gipfel hat man ein riesiges Observatorium gebaut. Es ist kein wilder Felsgipfel, aber allein aufgrund seiner Prominenz fühlt man sich hier doch ausgesetzt. Außerdem ist es inzwischen kühl, es geht ein scharfer Wind und ich stecke in meiner durchgeschwitzten Radkleidung - besser nicht zu lange hier bleiben. Schnell mache ich ein Gipfelfoto, streife meine Weste über und stürze mich in die Abfahrt. Die nächsten 21 km bis Malaucène geht es nur bergab. Die Fahrt durch den nächtlichen, dunklen, einsamen Wald ist wieder ein Erlebnis für alle Sinne, aber ich bin doch froh, als ich langsam wieder in wärmere Luftschichten im Tal vordringe. Es ist wieder eine andere Welt, wird mir bewusst, als ich in Malaucène, einem provencalischen Bilderbuchort, Menschen in Bars und Straßencafés sehe. Wie lieblich hier alles scheint, nach dem doch recht unwirtlichen Mont Ventoux... Ich höre kurz in mich hinein und stelle fest, dass ich mich gut fühle. Noch nicht zu müde, Beine ok, Magen erfreulich gut - ein gutes Stündchen Radeln ist noch drin. Wunderbar. Gegen kurz nach 0 Uhr erreiche ich das Örtchen Buis-les-Baronnies. Am Ortseingang finde ich ein lauschiges Plätzchen neben einem Brunnen und der Friedhofsmauer. Aus einem Haus in der Nähe höre ich noch den Fernseher aus dem offenen Fenster. Sehr idyllisch, hier bleibe ich. Nachdem ich mein Lager aufgebaut habe, wasche ich noch schnell mein Trikot und meine Hose - bei dem Traumwetter wird das bis morgen früh sicher wieder getrocknet sein - und bald schon liege ich in meinem Biwaksack und schließe die Augen. Ahhh.

Als ich fast eingeschlafen bin, beginnt aus dem Nichts ein plötzliches Getöse, meine Füße sind sofort nass - und ich bin sofort wieder wach: Ein Platzregen! Panisch befreie ich mich aus dem Biwaksack, zerre meinen Krempel direkt unter den nächsten Baum (wegen einer Ameisenstraße hatte ich den Platz zuerst gemieden) und schaue gehetzt auf das Regenradar: Unvermittelt auftretende Schauer, nicht lange andauernd, aber offenbar kaum vorhersagbar. Zugunsten der Atmungsaktivität habe ich mich natürlich für einen nicht wasserdichten Biwaksack entschieden... Aber inzwischen hat es auch schon fast wieder aufgehört. Außerdem bin ich wirklich todmüde. Vielleicht war es das ja? Und unter dem Baum kann ich einen kurzen Schauer ja womöglich überstehen? So verkrieche ich mich wieder in meinen, nun etwas klammen, Biwaksack und versuche zu schlafen. Das fällt mir nun aber wesentlich schwerer: Mit einem Mal fühle ich mich wieder verwundbar. Als ich es dann doch fast geschafft habe, höre ich auf einmal Stimmen und merke, wie jemand auf mich leuchtet. "Ey, da liegt einer...". Zwei Jungs, vielleicht 17 Jahre alt, haben mich gefunden. In meinem Biwaksack setze ich mich kurz auf: "Bonsoir!" - "Bonsoir", kommt es von ihnen zurück. Dann kümmern sie sich nicht weiter um mich, trinken Wasser und unterhalten sich vor sich hin. Trotz Oropax hält mich ihr Gerede wach. Als ich mich frage, ob die beiden eigentlich niemals nach Hause gehen werden, fängt es wieder an zu regnen. Nein! Die Jungs sprechen mich an: "Wenn Sie der Regen stört, gibt es dort drüben einen Skatepark mit einer Überdachung - nur einen Kilometer von hier.". Ich erkläre ihnen, dass ich meinen ganzen Krempel wieder zusammen räumen müsse und daher lieber hier bleibe. "Gibt es denn hier in der Nähe kein Dach? Eine Bushaltestelle, oder so?" - "Nö" - "Aber was macht Ihr hier eigentlich?", frage ich sie. Es ist immerhin 3.45 Uhr, Freitag Morgen! "Ach, wir sind auf dem Heimweg und machen hier nur eine Pause - wegen des Wassers...". Na fein. Ich rolle mich wieder in meinem elenden Biwaksack zusammen und brülle sie innerlich an: "Haut aaaaab!". Es hilft nichts. Erst als es gegen 4.15 Uhr wieder zu regnen beginnt, verabschieden sie sich voneinander und gehen ihrer Wege. Nun höre ich nur noch den Fernseher aus dem offenen Fenster vom Haus nebenan, scheinbar lauter als je zuvor - ein alter Horrorfilm? "Sind hier eigentlich alle völlig verrückt, schläft denn hier niemand?!" Meine Nerven liegen blank. "Du musst jetzt handeln!", herrsche ich mich völlig aufgekratzt an. Im Regen stehe ich auf, streife meine nasse Kleidung über, klaube meinen Krempel zusammen und rolle auf Argos in Richtung Ortsmitte. Schnell finde ich ein gemauertes Bushaltestellenhäuschen, packe meinen Kram wieder aus, lege meine nassen Sachen ab und mich mitten im Ort direkt neben der Straße hin. Allein die Gewissheit, hier vor weiterem Regen sicher zu sein und keine Stimmen zu hören, lässt mich sofort einschlafen. Endlich.

310.5 km, 4084 hm, 19.8 km/h.

Der Gipfel aus der Ferne

Das Observatorium auf dem Gipfel

Blick nach Westen

CP3 - Hurra :)