Samstag, 27. Juni 2020

Eine Segeltour nach Hamburg

4.30 Uhr - der Wecker klingelt. Draußen ist es eher dunkel als hell, Morgengrauen. Oh Gott. Wie fast immer wenn ich etwas vorhabe bin ich sofort wach, aber meine Motivation liegt noch tief in den Federn. Heute soll es nach Hamburg gehen, ich möchte meine Freunde dort besuchen. Eigentlich wollte ich gestern Abend gestartet sein, aber nachdem es am Schreibtisch länger dauerte und dann auch noch anfing zu regnen, habe ich mich kurzerhand umentschlossen. "Nach Norden wird es ja flach, das mache ich dann halt in einem Tag...", dachte ich mir.

Jetzt, wo alle Welt schläft, es draußen noch zwielichtig und nass ist und knapp 400 km vor mir liegen, hätte ich gerne schon 150 km im Rücken. Aber es hilft nichts: Wenn ich morgen mit meinen Freunden frühstücken möchte, soll ich bald los. Warum nehme ich eigentlich nicht einfach die Bahn? Es ist eine Mini-Sinnkrise an diesem Samstagmorgen. Warum tue ich das alles? Bei einem Kaffee lese ich "Roll the dice" von Charles Bukowski. Er war ein schräger, streitbarer Typ, aber sein Gedicht fängt mich auf:

if you’re going to try, go all the
way.
otherwise, don’t even start.
 
if you’re going to try, go all the
way.
this could mean losing girlfriends,
wives, relatives, jobs and
maybe your mind.
 
go all the way.
it could mean not eating for 3 or 4 days.
it could mean freezing on a
park bench.
it could mean jail,
it could mean derision,
mockery,
isolation.
isolation is the gift,
all the others are a test of your
endurance, of
how much you really want to
do it.
and you’ll do it
despite rejection and the worst odds
and it will be better than
anything else
you can imagine.
 
if you’re going to try,
go all the way.
there is no other feeling like
that.
you will be alone with the gods
and the nights will flame with
fire.
 
do it, do it, do it.
do it.
 
all the way
all the way.
 
you will ride life straight to
perfect laughter, its
the only good fight
there is.

Und genau so ist es: Man tut sich keinen Gefallen damit, bei jeder Schwierigkeit die Sinnhaftigkeit einer Unternehmung neu zu hinterfragen. Irgendwann habe ich mich entschieden es zu versuchen und nun werde ich alles tun, was dazu erforderlich ist. Zunächst einmal mich anziehen. Ich streife Hose und Trikot über und wie üblich fühle ich mich in dieser "Uniform" sofort stärker und entschlossener. Die Zuversicht kommt zurück: Es wird schon gehen.

Um 5.30 Uhr reiten Argos und ich los. Es ist bewölkt, hat bis vor kurzem geregnet, die Straße ist reichlich nass. Aber wir sind unterwegs - endlich. Bis Essen ist es der gleiche Weg wie eine Woche zuvor beim Nightride. Dann kommen wieder Gelsenkirchen und Herten, bis wir bei Datteln das Ruhrgebiet gemächlich verlassen. Ich bin erleichtert als es soweit ist: Endlich habe ich das Gefühl, Strecke zu machen. 50 Kilometer vor Münster nehme ich ein ausgiebiges 2. Frühstück bei einem Bäcker. Ich werde von einem Mädchen von höchstens 20 Jahren bedient, mit einer Mischung aus förmlicher Höflich- und Freundlichkeit. Angenehm, aber ein Kontrast zum manchmal schnoddrigen, dafür lustigen Rheinland. Westfalen eben.

Der Blick auf die Ruhrtalbrücke - auch morgens ein Highlight

Gestärkt reiten wir wieder los, aber weit kommen wir nicht: Nach 20 Minuten öffnet der Himmel seine Schleusen und Argos und ich finden Zuflucht unter dem Vordach einer Tankstelle. Eine halbe Stunde vertreibe ich mir die Zeit mit einem bescheidenen Kaffee und denke darüber nach, dass man vor jeder Pause das Wetter betrachten sollte... Immerhin eine Erkenntnis, und besser jetzt mit einer halben Stunde dafür bezahlt als im Rennen.

Bald kommen wir nach Münster, was mir einen Motivationsschub gibt: Ich mag es allgemein, in eine Stadt einzufahren, besonders nach Münster, und ich fühle mich, als wäre ich schon bald in Hamburg. Alles ist interessant, nichts überfordert mich, ich bin im Flow. Dazu kommt ein einmaliger Rückenwind, der Argos vor sich hertreibt. Manchmal ist es ein Kampf, gerade ist es ein Spiel. Inzwischen scheint sogar die Sonne. Hinter Lengerich erhebt sich der Teutoburger Wald, willkommene Abwechslung, freilich von kurzer Dauer: Bei Osnabrück wird es wieder flach. Zählt der Teutoburger Wald überhaupt als Mittelgebirge? Ein Hinweisschild erinnert an die Varus-Schlacht und wie ich so durch den Wald radele stelle ich mir gruselig-wilde Germanen vor - verständlich dass die antike Supermacht der Römer hier ein kollektives Trauma davon getragen hat.

Als ich nach Osnabrück komme, ahne ich bereits dass es die letzte richtige Stadt bis Hamburg sein wird. Rund 230 Kilometer und dazwischen nur "Dörfer" - kaum vorstellbar für einen Nordrhein-Westfalen. Ob es eine gute Idee wäre, noch etwas zu essen? Dieses Mal ist das Erstbeste eher das Erste als das Beste: In einem abgeranzten Laden nehme ich einen Döner, der selbst mir, mit meinem robusten Magen, Sorgen macht. Wird schon gut gehen. Aber etwas enttäuscht bin ich doch.

Nach knapp 30 Kilometern komme ich nach Bohmte, zu meiner Überraschung fast schon eine Kleinstadt. Außerdem ist jetzt Halbzeit - nur noch knapp 200 Kilometer nach Hamburg. Inzwischen fühle ich mich nicht mehr frisch, aber auch noch nicht erschöpft - es wird schon gehen. Halb erleichtert, halb angespannt belohne ich mich mit einem vorzüglichen Eis, bevor es weitergeht. Meine euphorische Hochstimmung hat sich inzwischen in einen rationaleren Optimismus gewandelt - vermutlich besser - und konzentriert geht es weiter. Die nächsten 100 Kilometer sind eher eintönig: Flaches Land, Bauernhöfe, Windräder und Autos mit Kennzeichen "Diepholz" - wie riesig ist dieser Kreis eigentlich?

Segeln vor dem Wind ist angesagt :) (meine endgültige Route ging durch Münster und Osnabrück und nicht durch Bremen - die Windverhältnisse waren aber genau so)

Allmählich verstehe ich, warum sie Kornblumen heißen

Kurz vor Osnabrück



Halbzeitpause

Gegen 19.40 Uhr knacken wir die 300 Kilometer. Erleichterung: "100 km kann man immer irgendwie fahren." - mein persönliches Motto. Und ich fühle mich noch nicht einmal schlecht. Ich schicke eine Nachricht an meine Eltern, dass es mir gut geht und plane die restliche Fahrt. In knapp 2 Stunden werde ich nach Rotenburg an der Wümme kommen, von dort sind es noch 60 Kilometer bis nach Hamburg: Perfekt um etwas zu essen.

In Rotenburg finde ich einen kleinen Pizzaladen und entscheide mich für eine Napoli, die ich auf einer Bank nehme. Rotenburg ist eine Klein- aber doch Kreisstadt: Menschen sind unterwegs und bevölkern die Innenstadt mit ihren Läden. Vor einem eleganten Restaurant sehe ich einen alten Knacker mit einer jungen, hübschen Begleiterin, die nicht nach seiner Tochter aussieht. Sie werden schon wissen, was sie an einander finden. Mir wird langsam kalt, ich bin müde, allmählich reicht es mir. Arm- und Beinlinge an, Regenjacke und weiter. Obwohl ich Pizza abgöttisch liebe, liegt sie mir beim Fahrradfahren oft schwer im Magen, so auch jetzt. Noch 60 km. "Wenn es gut ist, wird es schlecht werden" - es war eine Frage der Zeit. Ich fahre nun entlang einer Bundesstraße, die schnurgerade durch den Wald geht. Am Himmel ist noch Licht, aber die Bäume schirmen uns unbarmherzig davon ab. Irgendwann beginnen die Hügel, unsichtbar in nun völliger Dunkelheit, als ob eine geheimnisvolle Macht einen zurück hält. Der Radweg ist in einem miserablen Zustand, auf der Straße fahren zwar nur vereinzelt Autos, aber dafür brettern sie. Im Zeitlupentempo komme ich voran - Führt diese Straße wirklich ohne Kurven nach Hamburg? Wird sie je ein Ende nehmen? Zermürbend. 20 Kilometer vor Hamburg sehe ich einen Mc Donald's, meine Rettung: Eine große Cola ohne Eis hilft bestimmt. Als ich weiterfahre ist mir zunächst wieder kalt, aber Zucker und Koffein tun was sie sollen und die letzten 15 Kilometer fühle ich mich wieder besser. "Wenn es schlecht ist wird es wieder gut werden.". Gegen 0.50 Uhr komme ich in meinem Hotel an und der freundliche Herr an der 24 h Rezeption empfängt mich ohne mit der Wimper zu zucken. Argos wird sicher verschlossen und ich falle nach 397 Kilometern und einer Dusche ins Bett.





Am nächsten Morgen radele ich zu meinen Freunden, die mich mit den besten Pasticiotti nördlich der Alpen (selbstgemacht!), Kaffee und der besten Pizza nördlich der Alpen (Spaccaforno) wieder aufpäppeln. Grazie, ragazzi! Am Abend steige ich in den IC, der mich nach Hause bringt, wo ich mich bald wieder ins Bettchen lege. Gute Nacht für heute.

Frische Pasticiotti (Mürbeteig gefüllt mit Vanille- oder Pistaziencreme) - am besten lauwarm

So soll eine Pizza aussehen (und schmecken)

Dienstag, 16. Juni 2020

Nightride

In Bens Velospektive (einer meiner Lieblingsblogs) habe ich einen Eintrag über eine nächtliche Fahrt durch das westliche Ruhrgebiet gelesen. Ben ist ein guter Typ und obwohl er wirklich fit ist, geht es in seinen Berichten um weit mehr als nur stumpfes Trampeln, Material oder Training... Jedenfalls schildert er, wie er Ende Mai alleine die Strecke der "Night of the 100 Miles" (eigentlich eine Gruppenausfahrt, die in diesem Jahr wegen Corona abgesagt wurde) nachgefahren ist. Start abends in Essen, dann über Mülheim, Duisburg, Oberhausen, Bottrop bis nach Herten, wo man, pünktlich zum Sonnenaufgang, auf der Halde Hoheward ankommt. Wuppertal gehört ja bekanntlich nicht zum Ruhrgebiet, aber nachdem ich inzwischen seit fast 12 Jahren in Oberhausen arbeite, ist mir die Region zur Heimat geworden. Außerdem beschreibt Ben sehr schön seine Empfindungen über das nächtliche Radeln, seine innere Zwiesprache, das Gefühl der Einsamkeit und wie er es überwindet. Noch bevor ich seinen Bericht zu Ende gelesen habe ist mir klar: Das möchte ich nachfahren :)

Es ist Freitagnachmittag, Ende Mai, und heute soll es sein. Das Wetter ist unwirklich schön und so soll es auch auf unbestimmte Zeit bleiben - perfekte Bedingungen. Wie üblich dauern die Vorbereitungen länger als gehofft, aber heute bringt mich das nicht aus der Ruhe: Ich werde ohnehin die ganze Nacht unterwegs sein und morgen habe ich nichts vor, als einen nachmittäglichen Kaffee mit einem Freund zu nehmen. So versuche ich von Anfang an diese Fahrt anders anzugehen, als die Fahrt nach Freiberg. Dies soll keine strenge Rennsimulation sein, ich möchte mich treiben und die Eindrücke auf mich wirken lassen. Ein bisschen für die Erfahrung, aber hauptsächlich zu meinem Vergnügen. Inzwischen ist es halb acht, ich bin noch damit beschäftigt, Argos seine 35 mm Crossreifen aufzuziehen (Ben hat die Strecke auf seinem Hardtail gemacht) und damit reichlich spät dran. Aber aus dem Radio singt Aloe Blacc "Better Than Ever" und er hat Recht - ich bin allerbester Laune.

Es ist bald halb neun als wir losfahren. Zum Start nach Essen geht es über Ratingen und Mülheim. Keine Wolke ist am Himmel, die Sonne übergießt alles mit ihrem goldenen Licht, Menschen genießen den Freitagabend, vor uns allen liegt ein frisches Wochenende mit seinen Verheißungen. Zwischen Ratingen und Mülheim überhole ich einen Typen auf seinem Trekkingrad, der ein paar Kilometer friedlich in meinem Windschatten mitfährt. Dankenswerterweise ist er nicht auf ein Scharmützel aus, und als sich unsere Wege trennen verabschieden wir uns voneinander. Eine respektvolle Begegnung unter Radfahrern :) Bei Mülheim überquere ich zum ersten Mal die Ruhr und bin begeistert, wie ländlich und grün es hier ist - und wunderschön.

Endlich unterwegs

Eine Kirche in Breitscheid

Die Ruhr...


... und die Ruhrtalbrücke - klasse, oder?! :)

Hmmm, Vulkanisierpaste :)

Als ich gerade durch eines der gediegenen südlichen Mülheimer Wohngebiete rolle, höre ich plötzlich ein Rauschen von Argos Vorderrad. Pffffffffft - kommt das aus dem Gulli oder vom Reifen? Nach ein paar Metern ist die Sache klar: Wir haben einen Platten. Egal, ich habe alles dabei und die ganze Nacht Zeit. Bewusst nehme ich mir vor, mir meine gute Laune nicht verderben zu lassen und mache mich ans Werk. Und anstatt einfach einen neuen Schlauch einzuziehen, nehme ich mir die extra 5 Minuten und flicke den alten Schlauch - TipTop ;) Bevor ich den Reifen wieder aufziehe, suche ich im Bereich des Flickens nach der Ursache der Perforation im Mantel - merkwürdig, nichts zu sehen. Plötzlich fällt mir auf, dass der Flicken auf der inneren, der Felge zugewandten Seite sitzt. Hmmm. Mein Vater hatte mal ein zu dünnes Felgenband, was ihm eine schöne Plattenserie bescherte... Ich sehe mir die Felge an und tatsächlich: Das Felgenband bedeckt an manchen Stellen nicht die scharfkantigen Löcher der Speichennippel! Welcher Trottel hat das denn so nachlässig gemacht?! Ich selber, muss ich mir kleinlaut eingestehen. Aber gottseidank habe ich den alten Schlauch geflickt - mit einem neuen Schlauch hätte ich den Fehler nicht bemerkt und wahrscheinlich nach wenigen Kilometern wieder einen Platten gehabt. Also Glück im Unglück. Schnell den Fehler behoben, zusammen gepackt und weiter gehts.

Bald komme ich durch Essen Frohnhausen und schließlich nach Altendorf. Hier ist es Ruhrgebiet, wie ich es mag. Bunt, authentisch und nicht zur Unkenntlichkeit gentrifiziert. Ich denke an die pittoresken Ortschaften in Hessen, Thüringen und Sachsen, durch die ich letztes Wochenende fuhr. Im Vergleich dazu springt einen die Schönheit von Essen Altendorf nicht direkt an: Zweckmäßige Nachkriegsarchitektur statt Fachwerk, dunkle Hinterhöfe statt gepflegter Blumenbeete - aber quirlige Atmosphäre und Menschen aus aller Herren Länder in den Straßen. Zärtliche Heimatgefühle für eine (vordergründig) raue Gegend: Ich bin froh in Nordrhein-Westfalen zu leben.

Die Essener Skyline

Argos, bereit mich durch die Nacht zu tragen

Diese Sommerabende...

Gegen 22.20 Uhr erreichen wir das Cafe Radmosphäre. Natürlich ist es geschlossen, aber ich pausiere 5 Minuten an dem künstlichen See und nehme die Abendstimmung in mich auf: Menschen flanieren, trinken ein abendliches Bierchen oder rauchen eine Shisha. Entspannte Freitagabendatmosphäre, alle stimmen sich auf das Wochenende ein, jeder auf seine Art. Und so fahren wir los. Über eine alte Bahntrasse raus aus Essen, zurück nach Mülheim, wo es in verwirrendem ZickZack durch Wohngebiete, Wälder und Felder geht. Immer wieder sehe ich im letzten Abendlicht im Westen die Duisburger Skyline, immer wieder erkenne ich plötzlich überrascht, wo wir gerade sind. Dieser Teil des Ruhrgebietes ist wirklich sehr schön und ländlich - der Weg der "Night of the 100 Miles" ist toll gewählt! Allerdings bin ich froh, noch auf die Cross-Reifen gewechselt zu haben. Es geht reichlich über Stock und Stein. Von einer Stelle hatte Ben berichtet, dass sie so zugewachsen war, dass es kein durchkommen gab. Ungläubiger Thomas, der ich bin, muss ich es selber erfahren. Ben hatte natürlich Recht: Es gibt wirklich KEIN Durchkommen und nach ein paar Minuten kommen Argos und ich wieder reichlich zerkratzt (er am Lenkerband, ich an den Beinen) aus dem Gebüsch, ich schmunzelnd über mich selbst. Eine Umfahrung ist schnell gefunden und so geht es weiter in Richtung Duisburger Süden.

Der Blick nach Duisburg

Eine Tragestelle - ungewohnt für einen Rennradler

Inzwischen ist es nach 0 Uhr und ich horche vorsichtig in mich hinein. Wie ist denn nun das werte Befinden? Immer noch gut. Ich ahne bereits, dass ich es nicht zum Sonnenaufgang auf die Halde schaffen werde - mein gewohntes Rennradtempo kann ich auf den schmalen Stock-und-Stein Pfaden nicht halten. Aber das Gefühl der Einsamkeit ist dieses Mal viel weniger ausgeprägt. Ich denke an Ben, der vor wenigen Wochen auf dem selben Weg unterwegs war. Obwohl ich ihn nicht persönlich kenne, ist er mir eine imaginäre Gesellschaft. Dann befahre ich einen Teil der Dunkelrunde, auf der ich im Winter mit meiner Rennradgruppe unterwegs bin - und lasse mich im Geiste von meinen Mitfahrer/innen begleiten. Und dann komme ich immer wieder durch belebte Gegenden, wie dem RheinPark in Duisburg Hochfeld. Wie im Süden sitzen die Menschen draußen und genießen die laue Nacht - ich bin nicht der einzige, der noch wach ist. Der größte Unterschied zu meiner letzten Fahrt in die Nacht ist aber, dass ich mir selber keinen Druck mache. Das ist dieses Mal einfach: Ich werde ja ohnehin die ganze Nacht unterwegs sein und morgen kann ich mich erholen und muss nicht wieder für 12 Stunden aufs Rad - insofern ist es leicht, entspannt zu sein. Aber es macht doch einen riesigen Unterschied wenn man es schafft, im Kopf den Schalter umzulegen und sich nicht krampfhaft an selbstgesetzte Ziele zu klammern. Es kommt wie es soll. Und so lasse ich mich weiter treiben und genieße die diebische Freude eines Kindes, was ausnahmsweise die ganze Nacht aufbleibt.

Das liebe Duisburg

Die RheinOrange (in der Bildmitte)

Wau!

Irgendwo in Meiderich, es ist inzwischen halb zwei, sehe kurz vor einer Unterführung ein paar Typen auf dem Boden Knien und mit etwas herumhantieren. Ach Herrje, Junkies?? Nach ein paar Metern der nächste, auch er hantiert mit etwas - pffffffft - nix Junkies, es sind Sprayer. Oh Mann, da hat mir doch dieses Schubladendenken in meinem eigenen Kopf schon wieder eine Falle gestellt. Aber das ist ja okay, man muss nur bereit sein, sich auch vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Das mache ich dann auch, und bewundere die Werke im Tunnel. Können, Intelligenz und Chuzpe - die Arbeiten haben wirklich Klasse!


Gegen 2 Uhr merke ich, dass ich plötzlich müde werde und auch meine Stimmung abzurutschen droht - es sind weniger Menschen unterwegs, mir wird langsam kalt und bewusst, dass es noch eine lange Fahrt wird. Chris White schreibt, dass das emotionale Empfinden beim Radeln stark vom Zustand der Energiereserven abhängt. Also gut, ein Keks und ein warmer Kaffee haben noch nie geschadet. An einer 24h-Tankstelle mache ich eine Pause, kaufe noch ein paar weitere Snacks und ziehe Arm-, + Beinlinge und Regenjacke (gegen das Auskühlen) an. Als es weitergeht, fühle ich mich direkt wieder behaglich - bereit für die Nacht.

Bald kommt der Landschaftspark Duisburg-Nord, ein ehemaliges Hochofengelände, was heute als Freizeitgebiet genutzt wird. In den ehemaligen Kohlebunkern unterhält die Duisburger DAV-Sektion  einen tollen Klettergarten, im ehemaligen Gasometer kann man tauchen, im Sommer gibt es hier ein feines Programm-Sommerkino und natürlich gibt es die obligatorisch bunt beleuchteten Schornsteine. Ich verbinde viele gute Erinnerungen mit diesem Gelände. Aber irgendwie macht es mich dieses Mal  auch etwas betroffen: Diese Hochöfen waren früher produktiv, gaben vielen Menschen Arbeit und der ganzen Region eine Identität. Was inzwischen daraus geworden ist, erinnert mich an einen prächtigen, ausgestopften Tiger, einen traurigen Zeugen dessen, was einmal war und nicht mehr wird. Hoffentlich wird dieses Schicksal "meiner" Firma erspart bleiben - ein paar bunt beleuchtete Schornsteine wären ein schwacher Trost. Düstere Gedanken in finsterer Nacht, die ich schnell abschüttele. Und dann komme nach Sterkrade, dem Oberhausener Stadteil, in dem ich arbeite. An einer 24h-Tankstelle pausiere ich noch einmal. Eigentlich brauche ich nichts, aber die Aral am Sterkrader Tor scheint ein Treffpunkt der Nachtschwärmer zu sein. Ich kaufe eine Packung Prinzenrolle und atme noch einmal tief das Treiben der Nachmenschen ein - bevor ich wirklich in die Nacht abtauche.

Der Weg führt nach Norden, raus aus Sterkrade, direkt in den Wald. Die Gegend erinnert mich an das Emsland: Kiefernwälder, sandiger Boden und rot verklinkerte Häuser (im Moment gibt es kaum welche) - so geht es offenbar vom nördlichen Ruhrgebiet bis zur Küste. Das Fahren im Sand ist zum Teil ziemlich mühselig - an manchen kurzen Stellen muss ich absteigen und schieben. Im Geiste rechne ich nach, wann voraussichtlich auf der Halde sein werde - eine Stunde nach Sonnenaufgang - eineinhalb Stunden nach Sonnenaufgang - ... Egal. Am Ende werde ich schon ankommen. Anstatt mir selber Druck zu machen, beobachte ich die Nacht - und die Tiere. Ich bewundere einen großen Hasen, wie er mit kraftvollen Sprüngen vor mir das weite Sucht, elegant fast wie ein Pferd, sehe neugierige Marder, die erst im letzten Moment wieder verschwinden, überrasche ein paar Rehe, die dachten nun endlich ihre Ruhe zu haben, bin genervt von ein paar Kaninchen, die unmittelbar vor Argos Haken schlagen, anstatt einfach zur Seite zu laufen, und irgendwann grüße ich auch noch einen schlauen Fuchs, der aber so tut als hätte er mich nicht gesehen und sich schnell wieder unsichtbar macht. Als ich gegen 3 Uhr morgens in einem Moor die Frösche quaken höre, sehe ich, dass der Himmel im Osten bereits ein wenig heller scheint. Aber so langsam das Licht am Abend die Bühne verließ, genau so langsam kommt es nun zurück. Wieder blaue Stunde, herrlich.







Gegen viertel nach vier finde ich in Kirchhellen einen Bäcker, der sich noch für den Tag vorbereitet, und nehme ein erstes Frühstück. Als ich weiter fahre merke ich, dass ich nicht unangenehm, aber doch gemütlich müde bin: Ich fahre einfach langsamer und möchte ich am liebsten bei jedem Bäcker eine Pause machen... Aber es wird immer heller und das hilft. Außerdem bin ich langsam wieder in der Zivilisation - und ab halb fünf ist zu meiner Überraschung schon wieder manches Auto unterwegs.

Über Gladbeck, Bottrop, wieder Gladbeck und Gelsenkirchen schlängelt sich mein Weg in Richtung Herten, und irgendwann gegen kurz nach acht komme ich tatsächlich auf der Halde an. Die Sonne ist bereits vor 2 1/2 Stunden aufgegangen, aber das stört mich nicht. Die Sicht ist genial und ich bin einfach froh, dass ich nun hier bin. Ausgiebig sehe ich mich in alle Richtungen um, knipse ein paar Fotos und mache sogar für eine Viertelstunde die Augen zu.





Irgendwann reiße ich mich los - mein Bett zu Hause wäre jetzt auch nicht schlecht. Bis dahin sind es noch rund 50 Kilometer quer durch das Ruhrgebiet. Durch Gelsenkirchen geht es in Richtung Essen, vorbei an der Zeche Zollverein. In Rüttenscheid nehme ich bei einem Bäcker noch ein drittes, sehr ausgiebiges Frühstück, aber gegen halb eins (mittags) komme ich endlich zu Hause an.

Diese Fahrt war ein wirkliches erfüllendes Erlebnis: In der Nacht nimmt man andere Dinge anders wahr. Und wenn man sich einfach treiben lässt, wie ich in dieser Nacht, dann kann man es wirklich genießen (natürlich hatte ich auch perfektes Wetter...). Wahrscheinlich ist eine Nachtfahrt überall ein Erlebnis, aber hier hat es mir einfach nochmal besonders gut gefallen. Die Strecke zeigt einem ganz unterschiedliche Gesichter dieser Region, die ihren Charakter alle gemeinsam ausmachen - toll. Bestimmt auch tagsüber ein Erlebnis - aber am besten mit einem Mountainbike (oder sehr robusten Rennrad). Und am besten nimmt man sich für den Folgetag keine weiteren Heldentaten vor ;) Gute Nacht für heute.

Müde aber glücklich