Samstag, 17. Oktober 2020

Two Volcano Sprint 2020: Vor dem Start

Es ist soweit: Diesen Sonntag startet der Two Volcano Sprint. Von Neapel (genau genommen von Ercolano) geht es durch Italiens Süden bis nach Catania (genau genommen nach Nicolosi). Für ein Ultraradrennen mit "nur" 1100 Kilometern eher kurz (gut halb so lang wie das Three Peaks Bike Race), aber dafür etwa die gleiche Anzahl an Höhenmetern. Während das für die schnellen Leute bedeutet, dass sie nun wirklich kein Gerödel zum Schlafen mitnehmen brauchen, heißt das für mich, dass es sehr anstrengend wird... Ich werde also nach allen Regeln der Kunst schlafen.

Ein Unterschied zum Three Peaks ist, dass die Route hier komplett vorgegeben ist - alle nehmen den gleichen Weg. Man wird also häufiger Mitfahrer sehen, und beim Dotwatching ist auch sofort klar, wer gerade auf welcher Position fährt. Apropos: Die Leute von Dotwatcher berichten auch über dieses Rennen und haben eine Tracking-Karte. Es verspricht wirklich spannend zu werden: Es sind mindestens fünf Mitfahrer /-innen dabei die eigentlich alle Topfavoriten sind. Das wird spannend zu sehen.

Argos und ich sind seit gestern hier, gottseidank hat er sein erstes Mal fliegen gut überstanden (in einem Pappkarton). Er schafft schon ungeduldig die Hufe, während ich mich heute noch in Ruhe in Neapel umgesehen habe. Morgen ist die Registrierung und Sonntag Morgen um 5.30 Uhr geht's los, den Vesuv hoch und dann die Amalfiküste entlang. Ein Traum :)

Übrigens hatte ich gehofft, den letzten Eintrag vom Three Peaks zu schreiben, bevor der 2VS beginnt - aber der letzte Tag beim TPBR war lang und ich bin schlicht nicht fertig geworden. Kommt aber bald :)

Dann drückt Argos und mir bitte die Daumen, viel Spaß beim Rennen und herzliche Grüße aus Ercolano,

Thomas


Am Horizont sieht man Capri



Frittatina - eine lokale Spezialität. Eigentlich Pasta samt Sauce frittiert. Unglaublich lecker, auch wenn Frittiertes sonst nichts für mich ist.

Die beste Pizza der Welt? Möglicherweise ist sie das.

Eine Sfogliatella, gefüllt mit Ricotta und Orangenschale. Köstlich.




Rainbow Punch (wenn ich das so verwenden darf, Rüdiger)

Und Signor Negroni war auch zugegen :)


Montag, 5. Oktober 2020

TPBR 2020: Tag 6 (Le Grand-Lemps - Buis-les-Baronnies)

Als um 7 Uhr der Wecker klingelt wache ich auf. Donnerwetter, das war eine sensationell gute Nacht – besonders für draußen in einem Maisfeld: Sofort eingeschlafen, durchgeschlafen und gut erholt, super! Wie bisher jeden Morgen in diesem Rennen, bin ich sofort wach und beginne mit der Morgenroutine. So ganz uneinsehbar wie es am Vorabend schien, ist mein Plätzchen doch nicht, aber auf dem Gehöft in rund 300 m Entfernung nimmt offenbar niemand Notiz von mir bzw. interessiert sich niemand für mich. Und inzwischen bin ich wohl auch etwas abgestumpft – und mache mich ungeniert vor ein paar vorbei fahrenden Autos fertig (wenn ich stehe, kann man mich von der Straße doch sehen). Aber wer interessiert sich schon für einen Fahrrad-Landstreicher :)

Ein wirklich angenehmes Plätzchen

Nach gut 50 Minuten sind Argos und ich wieder auf der Straße und traben los – gemessenen Tempos: Nur eben den Berg runter rollen und es gibt Frühstück im Ort. Mein Magen ist immer noch sauer (buchstäblich) und so gibt es in der örtlichen Boulangerie neben Pain au Raisins auch ein paar trockene Baguettes zum Mitnehmen. In der Bar des Amis am Marktplatz gibt es schnell noch zwei Cafés, zur Feier des Tages im Sitzen, und dann geht es weiter. Die örtliche Apotheke macht leider erst gegen 9, also in einer knappen Stunde auf – so lange kann ich nicht warten. Für 2 Kaffee und buttrige Rosinenbrötchen ist mein Magen auch noch relativ gelassen. Ich belohne seine Großzügigkeit, indem ich noch reichlich Baguette in den Tank werfe und bete, dass bald eine geöffnete Apotheke kommen möge. Ansonsten bin ich ziemlich guter Dinge: Die Nacht war super, es ist ein sonniger Tag, die Gegend ist traumhaft schön und obwohl noch über 700 km bis Nizza vor mir liegen, fühle ich mich als ob ich gleich da wäre. Und zunächst einmal steht heute eine Flachetappe an – abgesehen vom Mont Ventoux, aber der ist noch weit weg. Unterwegs überhole ich einen älteren Herrn, der auf seinem, sicher schon 40 Jahre in seinem Gebrauch befindlichen, Stahl-Randonneur flott unterwegs ist. Wie schön, dass er offensichtlich immer noch Gefallen an diesem einfachen und eleganten Hobby findet.




Wie so oft meint es das Schicksal gut mit mir: Im nächsten größeren Ort finde ich eine geöffnete Apotheke. Gottseidank! Eine Freundin, die Ärztin ist und nebenbei sagenhaft gut Französisch spricht, weil sie mit einem Franzosen verheiratet ist, hat mir geschrieben, wonach ich fragen soll. Danke, Lisa! So komme ich schnell und unkompliziert an reichlich Maaloxan, wovon ich laut Apothekerin bis zu 2 täglich nehmen darf. „Wenn sie sagt 2, sind 4 sicher okay…“, denke ich bei mir und nehme gierig die erste Packung von dem süßen, dickflüssigen Zeug. Ahhhh, sofortige Linderung. Am liebsten würde ich direkt die zweite Packung nehmen, aber reiße mich doch zusammen – erstmal sehen, wie das Zeug wirkt… Und das tut es sagenhaft gut. Während die wohltuende Wirkung von Cola bereits nach 20 Minuten nachlässt, spätestens aber, sobald ich etwas esse, wird es mit Maaloxan immer besser, je mehr Zeit vergeht. Ich bin völlig begeistert und nehme dieses Wundermittel in meine persönliche Liste der Super-Arzneien auf (neben Paracetamol und Ceterizin). Und beseelt von dem Gedanken, dass ich es dank Maaloxan sicher nach Nizza schaffen werde, fliege ich auf Argos Rücken gen Süden.

Die Straßen sind mal mehr, mal weniger schön: Ab und zu bin ich auf einer fast autobahnmäßig ausgebauten Bundesstraße unterwegs, auf der das Radfahren erstaunlicherweise erlaubt ist. Aber neben dem Seitenstreifen ist genügend Platz - halb so wild also. Inzwischen zeigt das Thermometer 36°C, die elektronischen Informationstafeln über der Straße warnen vor extremer Hitze und raten dazu, ausreichend zu trinken. Als ich in einem Ort an ein paar Leuten vorbeiradle, rufen sie mir "Très courageoux" hinterher. Aber mit der Hitze komme ich gut zurecht. Wie in einem Kokon bewege ich mich durch diese flimmernde Welt, merkwürdig gedämpft nehme ich wahr, was um mich herum passiert. Trinken, treten, essen - ich bin im Flow. In Montélimar halte ich bei einem Laden, den Hansjörg mir empfohlen hat, und kaufe eine riesige Tüte köstlichen Nougats. Damit werde ich den Mont Ventoux wohl hoch kommen. Als ich weiterfahre werde ich plötzlich merkwürdig langsam, obwohl es leicht bergab geht. Benommen schaue ich auf mein Handy: Gegenwind. Aber mehr als ein maßvolles innerliches "Ach Herrje" ringe ich mir nicht ab - die Hitze macht mich so gleichgültig. Und irgendwie geht es ja vorwärts. Und so taucht irgendwann am Horizont ein Berg auf, der alle anderen bei weitem überragt - der Mont Ventoux.


Nougat aus Montélimar

Heißer Gegenwind





Der Mont Ventoux

In einem Ort namens Caromb fülle ich meine Flaschen auf und kaufe bei einer Asiatin, die mir unbedingt ein Nudelgericht servieren möchte, ein paar einfache Sandwiches. Eins wird sofort verschlungen, und dann geht es noch rund 12 Kilometer sanft bergan - bevor ich hinter Bédoin, bei Saint-Estève, auf die Route du Mont-Ventoux komme. Die Strecke von hier zum Gipfel ist oft Teil der Tour de France und zieht sich bei durchschnittlich 8.8 % Steigung über knapp 1400 hm zum Gipfel. Ein Anstieg der höchsten Kategorie, wo es bei der Bergwertung die meisten Punkte gibt. Die Gegend hier vibriert vor Radsportbegeisterung, aus vorbeifahrenden Autos ruft man mir "allez allez" zu, ständig kommen mir Rennradler entgegen und auf der Straße sind überall Anfeuerungen für die Rennhelden zu sehen. Ich kurbele mich alleine, ruhig durch den Pinienwald empor, aber ich kann in diesem Moment ahnen wie es sein muss, in einem Rennen hier hoch zu jagen: Brennende Muskeln, rasselnde Lungen, tobende Zuschauer, Adrenalin... Welch ein brutales Spektakel! Dieser Anstieg ist tatsächlich ein Erlebnis, auch wenn man alleine unterwegs ist (bzw. die Mitfahrer abstrakte Punkte auf der Trackerseite sind). Ich nasche kontinuierlich von meinem Nougat, träume von den Dramen, die sich hier abgespielt haben und lese unermüdlich die Botschaften, die Zuschauer für ihre Favoriten hinterlassen haben, bis der Pinienwald sich irgendwann lichtet und ich das Chalet Reynard erreiche. Von hier geht es durch das charakteristisch weiße Gestein dem Gipfel entgegen. Er sieht zum Greifen nah aus, aber es sind noch über 6 km und 450 hm durch diese Mondlandschaft.


In Caromb

Allez! Allez! Allez!



Inzwischen hat sich die Dämmerung über die Provence gelegt, und als ich endlich den Gipfel erreiche, ist es fast Nacht. Was für ein Ort: Trotz der einsetzenden Dunkelheit kann man unglaublich weit ins Land blicken, auf dem Gipfel hat man ein riesiges Observatorium gebaut. Es ist kein wilder Felsgipfel, aber allein aufgrund seiner Prominenz fühlt man sich hier doch ausgesetzt. Außerdem ist es inzwischen kühl, es geht ein scharfer Wind und ich stecke in meiner durchgeschwitzten Radkleidung - besser nicht zu lange hier bleiben. Schnell mache ich ein Gipfelfoto, streife meine Weste über und stürze mich in die Abfahrt. Die nächsten 21 km bis Malaucène geht es nur bergab. Die Fahrt durch den nächtlichen, dunklen, einsamen Wald ist wieder ein Erlebnis für alle Sinne, aber ich bin doch froh, als ich langsam wieder in wärmere Luftschichten im Tal vordringe. Es ist wieder eine andere Welt, wird mir bewusst, als ich in Malaucène, einem provencalischen Bilderbuchort, Menschen in Bars und Straßencafés sehe. Wie lieblich hier alles scheint, nach dem doch recht unwirtlichen Mont Ventoux... Ich höre kurz in mich hinein und stelle fest, dass ich mich gut fühle. Noch nicht zu müde, Beine ok, Magen erfreulich gut - ein gutes Stündchen Radeln ist noch drin. Wunderbar. Gegen kurz nach 0 Uhr erreiche ich das Örtchen Buis-les-Baronnies. Am Ortseingang finde ich ein lauschiges Plätzchen neben einem Brunnen und der Friedhofsmauer. Aus einem Haus in der Nähe höre ich noch den Fernseher aus dem offenen Fenster. Sehr idyllisch, hier bleibe ich. Nachdem ich mein Lager aufgebaut habe, wasche ich noch schnell mein Trikot und meine Hose - bei dem Traumwetter wird das bis morgen früh sicher wieder getrocknet sein - und bald schon liege ich in meinem Biwaksack und schließe die Augen. Ahhh.

Als ich fast eingeschlafen bin, beginnt aus dem Nichts ein plötzliches Getöse, meine Füße sind sofort nass - und ich bin sofort wieder wach: Ein Platzregen! Panisch befreie ich mich aus dem Biwaksack, zerre meinen Krempel direkt unter den nächsten Baum (wegen einer Ameisenstraße hatte ich den Platz zuerst gemieden) und schaue gehetzt auf das Regenradar: Unvermittelt auftretende Schauer, nicht lange andauernd, aber offenbar kaum vorhersagbar. Zugunsten der Atmungsaktivität habe ich mich natürlich für einen nicht wasserdichten Biwaksack entschieden... Aber inzwischen hat es auch schon fast wieder aufgehört. Außerdem bin ich wirklich todmüde. Vielleicht war es das ja? Und unter dem Baum kann ich einen kurzen Schauer ja womöglich überstehen? So verkrieche ich mich wieder in meinen, nun etwas klammen, Biwaksack und versuche zu schlafen. Das fällt mir nun aber wesentlich schwerer: Mit einem Mal fühle ich mich wieder verwundbar. Als ich es dann doch fast geschafft habe, höre ich auf einmal Stimmen und merke, wie jemand auf mich leuchtet. "Ey, da liegt einer...". Zwei Jungs, vielleicht 17 Jahre alt, haben mich gefunden. In meinem Biwaksack setze ich mich kurz auf: "Bonsoir!" - "Bonsoir", kommt es von ihnen zurück. Dann kümmern sie sich nicht weiter um mich, trinken Wasser und unterhalten sich vor sich hin. Trotz Oropax hält mich ihr Gerede wach. Als ich mich frage, ob die beiden eigentlich niemals nach Hause gehen werden, fängt es wieder an zu regnen. Nein! Die Jungs sprechen mich an: "Wenn Sie der Regen stört, gibt es dort drüben einen Skatepark mit einer Überdachung - nur einen Kilometer von hier.". Ich erkläre ihnen, dass ich meinen ganzen Krempel wieder zusammen räumen müsse und daher lieber hier bleibe. "Gibt es denn hier in der Nähe kein Dach? Eine Bushaltestelle, oder so?" - "Nö" - "Aber was macht Ihr hier eigentlich?", frage ich sie. Es ist immerhin 3.45 Uhr, Freitag Morgen! "Ach, wir sind auf dem Heimweg und machen hier nur eine Pause - wegen des Wassers...". Na fein. Ich rolle mich wieder in meinem elenden Biwaksack zusammen und brülle sie innerlich an: "Haut aaaaab!". Es hilft nichts. Erst als es gegen 4.15 Uhr wieder zu regnen beginnt, verabschieden sie sich voneinander und gehen ihrer Wege. Nun höre ich nur noch den Fernseher aus dem offenen Fenster vom Haus nebenan, scheinbar lauter als je zuvor - ein alter Horrorfilm? "Sind hier eigentlich alle völlig verrückt, schläft denn hier niemand?!" Meine Nerven liegen blank. "Du musst jetzt handeln!", herrsche ich mich völlig aufgekratzt an. Im Regen stehe ich auf, streife meine nasse Kleidung über, klaube meinen Krempel zusammen und rolle auf Argos in Richtung Ortsmitte. Schnell finde ich ein gemauertes Bushaltestellenhäuschen, packe meinen Kram wieder aus, lege meine nassen Sachen ab und mich mitten im Ort direkt neben der Straße hin. Allein die Gewissheit, hier vor weiterem Regen sicher zu sein und keine Stimmen zu hören, lässt mich sofort einschlafen. Endlich.

310.5 km, 4084 hm, 19.8 km/h.

Der Gipfel aus der Ferne

Das Observatorium auf dem Gipfel

Blick nach Westen

CP3 - Hurra :)