Mittwoch, 26. August 2020

TPBR 2020: Tag 4 (Milano - Sion)

Um 6.15 Uhr klingelt der Wecker - und weckt mich. Ein Stündchen mehr hätte es schon sein können, aber irgendwie stehe ich dieser Tage so unter Strom, dass ich doch sofort da bin. Die allmorgenliche Bestandsaufnahme fällt sogar erstaunlich gut aus: Ein leichtes Zwicken hier und da, ab und zu ein etwas beleidigtes Murren vom Hintern, aber insgesamt tip-top. Schnell ziehe ich mich an, packe ich mein Zeug zusammen, gebe Argos einen Klaps und nach 20 Minuten sitze ich beim Frühstück. Aus aktuellem Anlass gibt es hier gerade kein Buffet, sondern ein freundlicher Mitarbeiter bringt einem ein Frühstückstablett. Hmm, ob sich die Vorstellung von Frühstück dieses italienischen Hotelangestellten mit der eines Teilnehmers eines Langdistanzradrennens deckt? "Egal, Du musst sowieso noch schön italienisch frühstücken.", denke ich bei mir. Was ich schließlich bekomme, liegt vermutlich irgendwo zwischen unserer beider Vorstellungen. Schon in Ordnung. Im besten Grundausbildungstempo verputze ich alles, was mir essbar erscheint und schon bald verlassen Argos und ich zufrieden das Hotel. 

1. Frühstück (international, trotz Wassermelone)

Ein guter Teil meiner Zufriedenheit rührt auch daher, dass ich noch ein zweites Frühstück vor mir habe - Vorfreude... :) Das Schicksal meint es mal wieder gut mit mir, als ich nach 3 Minuten an einer tollen Pasticceria (Garbagnati) vorbei komme. Ein paar Köstlichkeiten sowie einen doppelten Caffè nehme ich an Ort und Stelle, ein paar weitere Köstlichkeiten kommen als Wegzehrung mit. Als wir wieder unterwegs sind, ist gerade ziemlich viel los, aber Argos gleitet geschmeidig durch den Verkehr und bald haben wir das Zentrum hinter uns gelassen. Nach 1 1/2 h sind wir noch nicht so richtig weit gekommen, aber als ich eine schöne Bar sehe, entscheide ich mich für ein drittes Frühstück - schließlich werde ich Italien schon heute (vorerst) wieder verlassen. An der Bar bestelle ich zwei Stücke Gebäck und einen doppelten Caffè, als mich plötzlich jemand an der Wade leckt. Irritiert drehe ich mich um und sehe eine elegante Dame, die mich etwas verlegen anlächelt. In ihrer Hand hält sie eine Leine, an deren Ende ein kleiner, ausgewachsener Hund mit etwas irrem Interesse in meine Richtung schnuppert - wenn er nur wüsste, wie gut das Gebäck hier schmeckt... Ich unterhalte mich kurz mit seinem netten Frauchen und als wir uns verabschieden, wünscht sie mir "buon'avventura". Sehr passend :)

2. Frühstück (italienisch)



3. Frühstück (italienisch)

Als ich wieder unterwegs bin, wage ich einen flüchtigen Blick auf die Trackerseite. Puh, das sieht gottseidank wieder besser aus. Sicher in der vorderen Hälfte, vielleicht sogar im vorderen Drittel? Na wir wollen mal nicht übertreiben... Bevor ich das Handy wieder wegpacke, sehe ich, dass wenige Kilometer vor mir ein Mitfahrer unterwegs ist. Unvorsichtigerweise erzähle ich Argos davon, dessen Jagdinstinkt natürlich sofort erwacht. "Hrrr, den fangen wir schön ein...", knurrt er gut gelaunt und fängt an, schneller zu rollen. Na schön, es ist ja nicht so, dass ich keine Lust hätte... Zügig sind wir unterwegs und dann, in einer der nächsten Ortschaften, sehe ich ihn. Mitfahrer sind immer leicht zu erkennen, mit dem ganzen Gepäck am Rennrad. Er hat scheinbar gerade nicht die beste Zeit auf dem Rad, jedenfalls sieht er stark nach einer wenigstens halb durchfahrenen Nacht aus. Dankbar denke ich an meine luxuriöse 5 Stunden Nacht - und ziehe mit einem kurzen Gruß vorbei.

Kurz darauf breitet sich vor mir der Lago Maggiore aus. Es ist das erste Mal, dass ich ihn sehe und ich bin sofort begeistert. Von der Südseite kommend, kann ich längs nach Norden über den See schauen und im Hintergrund die Berge sehen - traumhaft. 30 kurzweilige Kilometer geht es für uns am Westufer entlang, durch glamouröse Badeorte und vorbei an eleganten Villen - sehr schön. Dann biegen wir nach Nordwesten ab, Richtung Domodossola, wo der Simplon-Pass beginnt. Unterwegs überhole ich einen Herrn auf seinem Rennrad; als ich kurz darauf Wasser nachfülle, holt er mich wieder ein. "Wo fährst Du hin?", fragt er mich. "Nach Nizza." - "Über den Simplon-Pass?". Ich erzähle, dass wir ein Rennen machen und im Wallis einen Checkpoint haben, woraufhin er zu meiner Überraschung "Ahh, Three Peaks!" entgegnet. Damit hatte ich nicht gerechnet. Auch er wünscht mir alles Gute und es geht weiter. In Domodossola habe ich zwar erst gut 120 km hinter mir, aber meine Vorräte sind schon wieder am Ende. Die letzte Stadt in Italien, eine gute Gelegenheit, sich noch einmal einzudecken. Wir verlassen kurz unsere Route und finden schnell eine Bar. Perfekt. Eine Dame in meinem Alter, die aber irgendwie ein ungemein mütterlicher Typ ist, macht mir drei Panini, während ich Caffè und Cola trinke und ein Eis am Stiel esse (soweit ich mich erinnern kann, das erste Mal Eis am Stiel in Italien). Und dann beginnt der Simplon.

Am Lago Maggiore

Ich hatte mich für diese Route entschieden, weil sie für ihre wenigen Höhenmeter vergleichsweise kurz ist. "Und der Simplon ist ja nur knapp über 2000 m hoch.", dachte ich, "Kinderspiel.". Dabei hatte ich jedoch nicht auf dem Schirm gehabt, dass ich ihn mir von der Po-Ebene aus würde erarbeiten müssen. Von Domodossola sind es zur Passhöhe immerhin über 1700 hm. Anfangs bin ich guter Dinge, es ist warm, die Berge sind schön. Die Straße ist nicht allzu steil, der Pass ist stark auf Durchgangsverkehr ausgerichtet und dementsprechend gibt es viele Galerien - und Autos. Noch stören sie mich nicht. Aber je höher ich komme, desto enger wird das Tal, desto dunkler und abweisender die Berge. Ein rechtes Bollwerk. Irgendwie haben es die Menschen geschafft, diese Straße hindurch zu bauen. Mit immer mehr Galerien, die langsam anfangen, mich zu nerven. Überhaupt scheint dieser Pass ewig zu dauern: Keine allzu große Steigung, aber laaang. Ich beginne zu denken, dass ich lieber ein Ende mit Schrecken, als diesen Schrecken ohne Ende hätte. Irgendwann fängt es, trotz Sonnenscheins, an zu regnen. Oh Mann. Dann verlangsamt neben mir ein Auto der Straßenmeisterei, aus dem geöffneten Fenster ruft mir der Fahrer etwas zu: "Velo, da...", und zeigt irgendwo in die Berge. "Ist das kürzer?", frage ich. "Schöner!", kommt es zurück. "Davon kann ich mir auch nichts kaufen.", denke ich, und bleibe trotzig auf der Straße mit den inzwischen völlig nervigen Autos. Es kommt nicht häufig vor, dass Argos sich Sorgen macht, aber hier greift er ein: "Bist Du sicher, dass alles in Ordnung bei Dir ist? Vielleicht solltest Du mal etwas essen...". Er hat Recht. Das letzte Mal ist rund 2 Stunden her und bei Auffahrten bringt man doch kontinuierlich eine erhöhte Leistung. Ich bin völlig unterzuckert. Wenn ich während des Kletterns esse, werde ich immer so kurzatmig - also vergesse ich es einfach... So esse ich während der Fahrt grunzend ein Panino von meiner italienischen Ersatz-Mamma und warte darauf, dass es besser wird. So richtig will sich aber keine Besserung einstellen. Der Regen tröpfelt genau so unmotiviert auf die Erde, wie ich mich in den Himmel empor quäle... Und mein Kopf geht ins Notprogramm und denkt in einer Endlosschleife, dass man mit jeder Kurbelumdrehung dem Ziel näherkommt, und man es so auch irgendwann erreichen wird. Und genau das geschieht, irgendwann: Die Passhöhe ist erreicht. Himmel, das wurde aber auch Zeit!


In einer der zahllosen Galerien

Einer der Männer hat mir sogar Wasser angeboten

Panino




Geschafft - aber nicht in Feierlaune

Eigentlich wollte / sollte ich sofort weiter, aber ich brauche eine Pause. Reichlich wackelig betrete ich das Restaurant. Spaghetti Bolognese und ein gemischter Salat werden mich hoffentlich wieder auf die Beine bringen. Während ich auf der Bank sitze und auf mein Essen warte, bin ich erschrocken, wie schlecht ich mich inzwischen fühle. Viel geht gerade wirklich nicht mehr. Ich versuche, nicht darüber nach zu denken, wie es nun weitergeht, und trinke Cola. Dann kommt mein Essen - ein unfassbar riesiger Teller Nudeln und ein ebenfalls riesiger Salat. Habe ich doppelte Portionen bestellt? Allerdings bin ich in so einem merkwürdigen Zustand, dass ich mich kaum darüber freuen kann und es fast als Überforderung empfinde... Trotzdem zwinge ich mich, alles aufzuessen und gönne mir danach 5 Minuten, in denen ich den Kopf einfach auf den Tisch lege.  Endlich spüre ich, wie sich mein Zustand verbessert. Die Auferstehung feiere ich mit einem doppelten Espresso, in den ich zwei Tütchen Zucker schütte. Als ich wieder zurück bei Argos bin, fühle ich mich immer noch nicht zum Bäume ausreißen, aber Welten besser als zuvor. Nur warum kommt da drüben schon die Nacht? Moment, das ist doch Westen... Ich schaue auf die Wetterapp: Was aussieht, wie der Weltuntergang ist ein Gewitter, was in rund 20 Minuten hier ankommen soll. "Dem werde ich entkommen!", denke ich grimmig, streife hektisch mein Regenkostüm über und stürze mich auf Argos in die Abfahrt. Blitz und Donner bleiben uns tatsächlich erspart, aber nach kaum 200 m platschen die ersten dicken Tropfen herab und bald werden wir geduscht. Jetzt bin ich dankbar für die ständigen Galerien, aber jedes Mal wenn wir sie verlassen ist es, als führen wir gegen eine Wand aus Wasser. Wie kalt doch so eine Passabfahrt im Regen sein kann. 

Aber die 20 km und 1300 hm sind dann doch schnell abgerollt und, wie das in den Bergen eben häufig so ist, hört der Regen im Tal auf und es ist warm. An einem Blumenkübel halte ich an und lege meine Regensachen ab. Ein bisschen wackelig bin ich immer noch auf den Beinen, aber das liegt vielleicht auch daran, dass ich von der Abfahrt noch durchgefroren bin? Als ich auf den folgenden Kilometern langsam wieder auftaue, fühle ich mich tatsächlich wieder besser - Probleme kommen, Probleme gehen. So kommt auch der Optimismus wieder zurück: Es wäre tatsächlich möglich, den Checkpoint 2 noch heute zu machen... Ich schreibe ein paar Nachrichten mit Hansjörg, der mich immer gut motiviert. "Klar machst Du das heute noch! Wieviele Höhenmeter sind das denn?", schreibt er. "1800 - ich habe Angst.", antworte ich, nur halb im Scherz. "Hätte ich auch :)", kommt es zurück.


Im Rhône-Tal

Da wo die Wolken am dichtesten sind, geht es zum Col du Sanetsch hoch

10 km vor Sion fängt es plötzlich wieder an zu regnen. Aus der Ferne höre ich Donnergrollen. Madonna del Ghisallo! An einer Kiesgrube stelle ich mich unter und schaue auf das Wetterradar. Durchziehende kräftige Schauer, Gewitterneigung. Na sowas?! Wie ärgerlich, ich will doch noch heute zum Col du Sanetsch... Angestrengt wäge ich ab - und entscheide mich am Ende für die sichere Variante: Eine Nacht im Ibis in Sion, dem Talort des Passes, und morgen in aller Frühe los. Mit der Erleichterung, die man nach einer schwierigen Entscheidung manchmal spürt, ziehe ich nur schnell die Regenjacke über und schwinge ich mich auf Argos - es ist ja nicht mehr weit und gleich gibt es eine warme Dusche... Als ich im Hotel ankomme, klaube ich die besten Reste meines 2 jährigen Schulfranzösisch hervor, setze ein gewinnendes Lächeln auf, frage die junge Dame an der Rezeption nach einem Zimmer und sehe sie erwartungsvoll an. Ah, sie antwortet. Moment, was hat sie gesagt? Ich habe sie nicht verstanden, es hat sich allerdings nicht nach "Mais oui" oder "Bien sûr" angehört. Und warum schaut sie so mitleidig? Sehe ich so abgerissen aus? "Pardon?" frage ich noch einmal nach, und konzentriere mich mit aller Kraft auf ihre Antwort: "Je suis désolé - on est complet.". Ein kleiner Teil von mir ist hingerissen von der intrinsischen Höflichkeit dieser Sprache: "Ich bin betrübt - man ist vollständig.". Und mit welch aufrichtigem Bedauern sie es sagt... Ein großer Teil von mir verliert gerade innerlich die Fassung. Was mache ich denn jetzt? Auf Booking suche ich nach Alternativen, aber sie sind alle außerhalb meiner Reichweite - entweder räumlich oder finanziell. Ich schaue Argos an - er sieht stark und zu allem entschlossen aus - und spüre trotzigen Wahnsinn in mir aufsteigen. "Dann fahre ich eben im Unwetter da hoch...". Ich bilde mir sogar ein, irgendwo ein irres Kichern zu hören.Wir sind gerade wieder losgerollt, als aus Argos mal wieder die Stimme der Vernunft zu mir spricht: "Bist Du sicher dass es eine gute Idee ist, direkt ins Unwetter zu fahren? Du bist ziemlich fertig, in solchen Situationen kann man leicht sehr folgenschwere Entscheidungen treffen. Ein Gewitter in den Bergen ist kein Spaß und der Pass ist lang.".

Er hat Recht. Nach wenigen hundert Metern sehe ich eine Pizzeria und beschließe, dort einzukehren, mich etwas zu erholen, und dann in Ruhe zu sehen, was wir machen. Obwohl es draußen noch warm ist, setze ich mich als einziger Gast nach drinnen, weil ich wirklich nicht mehr frieren möchte und Energie sparen muss. Während ich auf die Pizza warte, starre ich verbissen auf die Wetterapp: Immer wieder ziehen Unwetter durch, mit Regen und Gewitter. Wirklich besser werden soll es erst ab 2 Uhr morgens. Angestrengt denke ich nach: Wenn ich mich nachts im Unwetter da hoch quäle, ist der morgige Tag schon fast verloren - dafür brauche ich noch nicht einmal vom Blitz getroffen werden. Eigentlich eine glasklare Erkenntnis, aber wie unglaublich schwer es doch fällt, erschöpft und übermüdet einen rationalen Gedanken zu fassen. Mein Blick fällt auf die Terrasse der Pizzeria, die von einer äußerst großzügigen und robusten Markise überdacht wird... Der Kellner ist ein netter Kerl in meinem Alter und spricht gutes Englisch. Als er abräumt, erkläre ich ihm dass ich an einem Rennen teilnehme und frage, ob ich nicht auf der Terrasse übernachten könnte - ich hätte alles dabei, morgen früh wäre keine Spur mehr von mir übrig. Ernst schaut er mich an: "I have to ask the boss.". Er verschwindet für eine lange Viertelstunde, in der ich bange an meiner Rivella nippe, und als er zurück kommt rechne ich fest mit einer Abfuhr: "It's ok.", sagt er lässig. Hurra, mir fällt ein Stein vom Herzen. Ein Tisch ist noch belegt, aber die wollen sicher gleich zahlen. Ich gehe schnell auf die Toilette und putze meine Zähne. Als ich zurück komme, ist der Chef da. Nachdenklich sieht er mich an und erklärt etwas auf Französisch, was ich nicht verstehe. Gottseidank ist mein polyglotter Kellnerfreund noch da, der mir übersetzt. Sie haben einen Sicherheitsdienst, der in der Nacht einen Rundgang macht. Und wenn die mich auf der Terrasse finden, rufen sie mitten in der Nacht den Chef an... Die beiden reden nachdenklich miteinander, wovon ich wenig verstehe. Immerhin schicken sie mich nicht einfach weg. "Dans la cabane?", fragt der Chef irgendwann. Mein Freund nickt und endlich führt der Chef mich um das Haus zu einem Wellblechanbau. Der fensterlose Raum, in dem die Familie ihre Motorradausrüstung, Ski und ein E-Bike lagern, ist vielleicht 4 Quadratmeter groß, aber sauber und es gibt elektrisches Licht und eine Tür, die man zumachen kann. Es ist perfekt. Als der Chef mich fragend ansieht, möchte ich ihm am liebsten um den Hals fallen. Ich bin gerade dabei, mein Lager auszubreiten, als es noch einmal klopft. Mein Freund bringt mir einen Zettel, auf dem der Chef erklärt, dass er mir erlaubt, hier zu übernachten - falls der Sicherheitsdienst mich doch findet. Was für herzensgute Menschen! Und ausgezeichnete Pizza machen sie auch noch :) Gerne mache ich Werbung für sie: Pizzeria Pont du Rhône in Sion. Gegen 23 Uhr liege ich gemütlich, warm und trocken in meiner Hütte und höre draußen Regen und Gewitter. "Danke, Madonna del Ghisallo.", denke ich noch, und schlafe zufrieden ein.

256.6 km, 2410 hm, 22.4 km/h.

Dans la cabane (das E-Bike hat draußen übernachtet)


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