Sonntag, 16. August 2020

TPBR 2020: Tag 2 (Admont - Bruneck)

Als um 6.30 Uhr mein Wecker klingelt, bin ich bereits wach. Die erste Nacht draußen schlafe ich immer sehr leicht (wenn ich denn wirklich schlafe...). Ich habe mich noch nicht an die Geräusche gewöhnt und bin auch noch nicht müde genug, um dennoch zu schlafen. So habe ich in der Nacht, neben allem möglichen Geraschel, auch immer wieder die Stimmen bzw. rasselnden Freiläufe von Mitfahrern gehört, die an mir vorbei fuhren. Natürlich lasse ich mich ungern überholen, aber ich hatte mir fest vorgenommen, die erste Nacht zu schlafen - schließlich muss ich noch eine Woche durchhalten. Etwas unruhig bin ich aber doch, als ich im Morgendunst meine Sachen zusammen packe. Auf welcher Position ich wohl bin? Immerhin fühle ich mich einigermaßen erholt. Nachdem alles verpackt ist, schlinge ich noch einen halben Döner vom Vorabend herunter und endlich geht es los - ach neee, ich brauche noch Wasser. Na gut, ungefähr einen knappen Kilometer in Gegenrichtung gibt es einen Brunnen, also dann schnell. Während ich meine Flaschen nachfülle, radelt ein Mädchen auf einem bepackten Rennrad an mir vorbei - sie sieht schwer nach Mitfahrerin aus, sicher bin ich mir aber nicht. Aber wer radelt hier schon sonst um 7.15 Uhr mit so einem Setup entlang?

Mein heimeliges Schlafplätzchen der ersten Nacht - danke Billa!


Als ich endlich unterwegs bin - in der richtigen Richtung - erwecke ich mein Handy aus dem Flugmodus und wage einen flüchtigen Blick auf die Trackerseite. Das darf doch wohl nicht wahr sein?! Bin ich wirklich -? Ich bin unter den fünf letzten! Unvermittelt schalte ich das Display aus, das gibts doch gar nicht! Ich bin doch eigentlich ein starker Fahrer, es ist doch unmöglich dass ich fast die  Lanterne Rouge bin. Ärgerlich und enttäuscht radle ich gen Westen, den anderen hinterher. Normalerweise scheint es mir stets, als ob die Nacht auf wunderbare Weise die Welt für uns reinigt, heute aber habe ich kein Auge für den traumhaften Morgen. Auf diese sch...-Trackerhomepage schaue ich so bald nicht mehr, soviel steht fest. Allmählich wird mir klar was passiert ist: Die meisten sind ganz einfach die Nacht durchgefahren. Ich wusste, dass die Top-Leute das machen. Aber fast das ganze Feld? Wie stark sind die denn bloß, dass sie sich das zumuten / -trauen? Na das kann ja heiter werden. Ich bin so aufgewühlt, dass ich Argos, ausnahmsweise mal die Stimme der Vernunft, kaum höre: "Beruhige Dich, wir haben einen guten Plan, wenn wir unsere Tagesziele schaffen, werden wir ganz sicher nicht die Letzten werden.". Gerne möchte ich ihm glauben, aber doch bin ich unzufrieden. Ein paar Freunde erkundigen sich per Whatsapp nach meinem Befinden, knurrig beschreibe ich meine Lage. Rüdiger hat den einzig vernünftigen Rat: "Tritt in die Pedale!".

So erreichen wir nach rund 3 Stunden Schladming, und obwohl ich am liebsten weiterreiten möchte, biegt Argos auf den Parkplatz einer Bäckerei. "So, Frühstück - das ist gut für Dich!", ruft er mir munter zu und schüttelt mich von seinem Rücken. Also gut. Ich bestelle zwei Kaffee, Topfenstrudel, ein großes belegtes Brötchen und noch ein paar Rosinenbrötchen und Nussschnecken für unterwegs. Trotz der Eile fällt mir auf, wie gut alles schmeckt - hach, du liebes Österreich! Als ich wieder auf Argos sitze, habe ich tatsächlich bessere Laune. Was Topfenstrudel und Kaffee nicht alles bewirken können. Im Ort sehe ich einen Mitfahrer, der offenbar auf der Suche nach etwas ist. Na immerhin, einen habe ich wieder überholt...

Nach rund einer Stunde fängt es an zu regnen. Ein Blick auf das Regenradar bestätigt den Eindruck, den die dunklen Wolken vermitteln: Das wird ein Weilchen dauern. Also schnell anhalten und Regensachen an, je früher desto besser: Regenüberschuhe, kurze Regenüberhose, Regenjacke. Damit bleibt man zwar beim besten Willen nicht trocken, aber es bewahrt einen vor dem Auskühlen. So geht auch die erste richtige Abfahrt nach Sankt Johann im Pongau über 400 hm ganz gut. Kurz danach führt meine Route auf dem Tauernradweg einen knackigen Anstieg hinauf. Ich kenne dieses Stück von der Tour mit Reinhold vor ein paar Jahren. Mitten im Anstieg kommt mir ein Mitfahrer entgegen. "Müssen wir wirklich da rüber?", fragt er mich ungläubig. Obwohl es gegen das Ethos des Rennens ist (Mitfahrer sollen weder Ausrüstung, noch Verpflegung, noch Informationen miteinander teilen), erkläre ich ihm, dass die Straße im Tal eine reine Autostraße und für Fahrräder gesperrt ist, und wir daher tatsächlich oben lang müssen. Und schon geht es weiter. Auf der anderen Seite sausen Argos und ich mit Freude hinunter, zurück ins Tal. Die Beine laufen gerade ziemlich gut, im gestreckten Galopp überholen wir noch einige Mitfahrer und nach 1 1/2 h erreichen wir Ferleiten. Hier ist die Mautstation, an der die Großglockner Hochalpenstraße beginnt. Inzwischen scheint wieder leicht die Sonne und ich bereite mich auf die nun anstehenden 15 km mit 1400 hm vor, indem ich die Regensachen ablege, mich mit Sonnencreme einschmiere (es ist wirklich eine Schmiererei) und ein Rosinenbrötchen nehme. Hu-ha, niemand hat uns überholt, also los.

Es ist das dritte Mal, dass Argos und ich hier rauf kurbeln, und doch bin ich wieder überrascht von der nachdrücklichen Steilheit der Straße. Wohl wegen des wechselhaften Wetters sind Gottseidank nicht so viele Autos und Motorräder unterwegs. Sehr angenehm. Bald verfalle ich in diesen glücklichen Zustand, in dem sich der Geist mit sich selbst beschäftigt und man ohne großes Nachdenken einfach weiter fährt. Bis ich eine Rennradlerin vor mir sehe. Ordentlich bepackt und in Warnweste kämpft sie sich mit superniedriger Trittfrequenz nach oben. Verstohlen schaue ich auf ihren Antrieb - oh je, das sieht nach ziemlich klassischer und berguntauglicher Rennradübersetzung aus - 36-30 vielleicht? Zum Vergleich: Ich fahre  30-34. "Das kostet richtig Kraft.", denke ich mitleidig. Unser RaceCap sehe ich nicht, also quatsche ich sie munter an: "Na, wo fährst Du denn hin?" - "Na, nach Nizza fahre ich...". Genau wie ich macht Daniela zum ersten Mal bei einer solchen Veranstaltung mit. Wir unterhalten uns kurz, hauptsächlich darüber, wie sausteil diese Straße doch ist, und versichern uns gegenseitig, dass wir nicht aufgeben werden, auch wenn es bis Nizza etwas länger dauern mag. Als die Straße noch etwas steiler wird, schalte ich mit schlechtem Gewissen einen Gang runter - ihr sind die Gänge schon lange ausgegangen - und ziehe, mich verabschiedend, davon. Am Abzweig zur Edelweißspitze treffe ich Michael Wacker (den Veranstalter), der Fotos von den Teilnehmern macht. "Na, das sieht ja noch gut aus.", ruft er mir zu. "Fühlt sich aber nicht so an.", antworte ich schnaufend. "Warte mal ab, da vorne schieben gleich welche...". Zuerst überhole ich einen einzelnen Mitfahrer, der aussieht, als würde er gleich vom Rad fallen. "Na, alles klar? Wo bist Du denn heute Morgen gestartet?", frage ich ihn. "Heute Morgen? Ich bin die Nacht durchgefahren..."... Während die eigentliche Passstraße super ausgebaut ist, bestehen die letzten 1.7 km zur Edelweißspitze (Stichstraße) aus grobem Kopfsteinpflaster mit bis zu 15 % Steigung. Alter Schwede! Als ich an den beiden schiebenden Mitfahrern vorbei komme, möchte ich auch am liebsten absteigen. Stattdessen schicke ich ein Stoßgebet zur Madonna del Ghisallo, der Schutzpatronin der Radfahrer, und komme schließlich irgendwie auf der Edelweißspitze auf 2571 m ü. NN an. Ich binde Argos an, schnappe mir meine Regenjacke (gleich wird es kalt) und betrete taumelnd vor Anstrengung und dünner Luft die Hütte. In Rekordzeit tischt der Wirt mir einen Teller Spaghetti Bolognese, einen gemischten Salat und eine große Apfelschorle auf und in Rekordzeit verputze ich alles. Für den Weg kommen noch zwei Speckbrote mit und weiter geht es.

Die Mautstelle in Ferleiten



Der Blick zum Fuscher Törl

© Adventure Bike Racing

Das Beweisfoto von der Edelweißspitze (ist wirklich nur Sonnencreme in der Nase)...

Die nächsten 8 km geht es hochalpin ab und auf, die Straße bleibt ständig über 2250 m, bis es kurz vor dem Hochtor, dem Beginn der echten Abfahrt, zu regnen beginnt. Brrr, bitte keine Regenabfahrt. Aber es soll so sein. Also Regensachen an, zusätzlich Beinlinge, Daunen- unter die Regenjacke, lange Handschuhe und Attacke. Die Abfahrt ist schnell, bei guten Bedingungen kann man hier locker 80 fahren. Heute peitscht mir der Regen ins Gesicht und der Wind gibt sein Bestes, Argos und mich von der Straße zu pusten. Von den Knien abwärts bin ich in kürzester Zeit durchnässt - nicht die besten Bedingungen. Und doch brettere ich jauchzend ins Tal, mit einer Mischung aus Schmerzen, Trotz und Begeisterung - was für intensive Dinge man doch erleben kann! Etwa nach der halben Abfahrt beruhigt sich das Wetter wieder und mir kommen einige Mitfahrer entgegen. Die Armen, im Unwetter hoch fahren ist zumindest für die Moral noch schwieriger... Ich bin froh, dass ich es hinter mir habe. In Winklern, dem Talort, lege ich an der selben Stelle meine Regensachen ab, wo ich dies auch vor einem Jahr, auf dem Weg nach Griechenland gemacht habe. Nostalgische Gefühle. Schnell noch ein Speckbrot und schon kommt der nächste Anstieg.

Im Hochtor-Tunnel

Der Großglockner ist ein scheuer Geselle (die Spitze rechts in der Wolke)


Der letzte richtige Pass des Tages

Als ich in Lienz einen Mc Donald's sehe, ist es gerade 20 Uhr - perfekt. An Ort und Stelle verspeise ich ein Maxi-Menü mit einem exotischen Burger und nehme mir vor, von nun an nur noch auf die Klassiker zu vertrauen. Immerhin habe ich das ultimative legale Dopingmittel bestellt - Cola, ahhhh. Alltags trinke ich so gut wie nie Cola, aber bei langen Radtouren gibt es kaum etwas, was mich mehr erfrischt. Zucker, Koffein und Kohlensäure... Noch ein paar Cheeseburger für unterwegs und für die Nacht und weiter. Nur noch 80 km bis Bruneck, dem heutigen Tagesziel meines optimistischen Szenarios. Motiviert trete ich in die Pedale. Das ist ja ein Katzensprung, in spätestens 4 Stunden werde ich da sein... Die ersten 25 km steigt die Straße mit knapp 2 % an. Kein Drama, aber ich komme doch langsamer voran, als ich mir wünschen würde. Kurz bevor es vollends dunkel wird, beginnt wieder der Regen und schwemmt meinen Optimismus ins Tal. Heute hätte ich gerne eine Unterkunft, aber ob ich zu dieser Zeit noch etwas in Bruneck finde? Auf Booking sehe ich ein Hotel, wo die Rezeption bis 24 Uhr geöffnet sein soll - hurra! Vorsichtshalber rufe ich an und erkläre, dass ich eventuell erst gegen viertel nach 12 da sein werde, da ich mit dem Fahrrad reise. Was der Herr wohl denken mag? Jedenfalls alles kein Problem, ich solle einfach kommen. Puh. Um kurz vor 12 komme ich tatsächlich an. Es ist ein nettes Hotel mit einem sicheren Platz für Argos und einer warmen Dusche für mich. Schnell (zumindest versuche ich es) wasche ich meine Sachen und hänge sie zum trocknen, esse noch einen Cheeseburger und falle dankbar in mein sauberes Bettchen.

334.4 km, 4433 hm, 21.7 km/h.

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