Sonntag, 31. Mai 2020

Auf nach Freiberg (Teil III)

Als um 7 Uhr mein Wecker klingelt, bin ich bereits einigermaßen wach. Ab einem unbestimmten Zeitpunkt kamen immer wieder vereinzelte Autos die Straße entlang. In der allgemeinen Ruhe waren sie um so auffälliger, wodurch ich allmählich geweckt wurde. Wie immer beim Aufstehen fühle ich gespannt in mich hinein - und bin zufrieden: Etwas schwere Beine, aber kein Muskelkater und auch keine größeren Verspannungen. Schnell ziehe ich mich an (eigentlich tausche ich nur meine Schlaf-Boxershorts gegen die etwas klamme Fahrradhose) und just als ich wieder im Beinkleid da stehe, öffnet sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Hoftor und ein Herr verlässt sein Haus, diskret, scheinbar ohne Notiz von mir zu nehmen. "Zeit fürs Frühstück.", denke ich erleichtert, und mache mich über den halben Falafel-Teller her, der vom Vorabend übrig geblieben ist, während mein Schlafsack noch etwas auslüftet.

1a Schlafplatz mit Schrankfächern :)

Schmecken auch kalt

Bald darauf sind wir wieder unterwegs auf einer wenig befahrenen Bundesstraße. Teils alleemäßig bewachsen, schwingt sie sich sanft sinusförmig (vertikal) durch die Landschaft, vor dem Panorama des Thüringer Waldes im Süden - perfekt um sie mit einem Cabrio zu befahren. Argos und ich mühen uns an den kurzen Anstiegen einigermaßen ab, aber die Landschaft entschädigt. Als wir an ein paar Windrädern vorbeikommen, die in unterschiedliche Richtungen nach dem Wind Ausschau zu halten scheinen, wird mit außerdem bewusst, dass dies das erste Mal auf dieser Tour ist, dass es keinen (Gegen-)Wind gibt. So kommen wir doch ganz gut voran und nach rund einer Stunde erreichen wir Gotha. Unzählige Male bin ich hier vorbei gekommen, und doch habe ich die Stadt nie gesehen. Deshalb gönne ich mir eine kurze Platzrunde durch die Altstadt (mein 2. Frühstück möchte ich im wunderbaren Erfurt nehmen). Mit seinen hübschen, bunten Altbauten und dem Pflaster erinnert mich Gotha auf den ersten Blick an eine Miniaturausgabe von Freiberg - sehr sympathisch - bis auf einem Hügel ein gigantisches Schloss zum Vorschein kommt. Das frühbarocke Schloss Friedenstein, erbaut durch Ernst den Frommen, seinerzeit eine der größten Anlagen überhaupt, mit botanischem Garten und allem Zip und Zap. Gotha war damals die Residenz des Herzogs von Sachsen-Gotha, wie ich auf einer Informationstafel lese. Nichts davon hatte ich auf dem Schirm - und fühle mich reichlich banausig. Mit schlechtem Gewissen trage ich Gotha auf meiner "Muss ich mal mit etwas mehr Zeit sehen"-Liste ein, und mache noch ein paar Fotos (es gelingt mir kaum, das riesige Schloss in seiner Gänze abzulichten). Und als ich weiterfahre denke ich darüber nach, wie sehr sich die Dinge ändern: Vor nur ein paar hundert Jahren ein kulturelles, wirtschaftliches und politisches Zentrum, ist Gotha heute nurmehr eine hübsche Kleinstadt am Rande der A4, von der die wohl viele Menschen gar kein Bild haben. Aber selbst das Römische Imperium ist irgendwann untergegangen...


Ja wo ist er denn, der Wind?

Schloss Friedenstein

"Nur" das Herzogliche Museum im Schlosspark (nicht das Schloss!)

Bald kommen wir nach Erfurt. Seit Köln die größte Stadt auf dieser Tour, Universitätsstadt und zu Recht Landeshauptstadt von Thüringen. Der Flughafen, den wir zu Beginn passieren, ist zwar vergleichsweise überschaubar, aber doch habe ich das Gefühl, in eine Metropole einzufahren: Straßenbahn, große, gepflegte Häuser, und die wunderschöne, aber doch weitläufige Altstadt. Vom Domplatz aus mache ich eine kleine Platzrunde, bevor ich mir bei einem Bäcker ein üppiges Frühstück kaufe, was ich auf einem belebten Platz auf einer Bank sitzend einnehme - die Tische der Bäckerei sind alle belegt. An einem Tisch nebenan sitzt offenbar eine Gruppe (geisteswissenschaftlicher) Doktoranden, die sich angeregt unterhalten, gepflegte ältere Herrschaften, hippe junge Städter - alle sind dankbar, nach dem Lockdown wieder draußen zu sein und, ja was eigentlich zu tun? Persönlich komme ich prima alleine zurecht, aber auch mir tut es zuweilen einfach gut, unter Menschen zu sein. Der Anblick brummenden Lebens ist wie Kaffee: Zu wenig macht mich lethargisch, zu viel nervös, aber im richtigen Maße ist er anregend und beruhigend zugleich. So nehme ich mir reichlich Zeit für das Frühstück, nehme Gebäck und Eindrücke ich mich auf, und als ich aufbreche fühle mich so frisch wie seit Beginn dieser Tour nicht mehr. Danke, Erfurt!

Der Erfurter Dom(-Platz)

Mehltau?

Keine Filter, das sah wirklich so aus


Die nächste Stadt ist Weimar, kleiner als Erfurt, aber (mindestens) ebenso kultiviert. Ich würde mich gerne etwas umsehen, aber dies ist keine Touristenfahrt, sondern zumindest ein bisschen eine Rennsimulation:

Der Tag hat 24 h, davon will ich idealerweise 7 h schlafen. Bleiben noch 17 h. Vor und nach der Nacht benötige ich insgesamt ca. 1.5 h. Noch 15.5 h. Wenn ich dann mit einem Schnitt von 21 km/h (für einen Rennradler langsam aber angesichts des Pensums realistisch) 12 h auf Argos sitze, sind das ziemlich genau die angestrebten 250 km pro Tag. Typischerweise verbringt man ca. 15 % der Zeit tagsüber mit einkaufen, essen, Reparaturen, pausieren - also ist man 13.8 h unterwegs um 12 h zu fahren. Damit bleiben noch ganze 1.7 h übrig. Man kann sie zu touristischen Zwecken nutzen, als extra Pause, oder man kann sich damit einen gewissen Puffer herausfahren (1.7 h  35 km) Es sollen ja auch mal unvorhergesehene Dinge passieren ;) Diese Überlegung zeigt in welche Richtung es geht, wenn man schneller werden möchte. Die Durchschnittsgeschwindigkeit lässt sich schwerlich erhöhen (James Hayden, zweimaliger Gewinner des Transcontinental Race, fährt in derartigen Rennen irgendwas um die 24 km/h). Fiona Kolbinger, die Gewinnerin des letztjährigen Transcontinentals hat im Schnitt 4 h pro Nacht geschlafen - und war nebenher auch noch unglaublich effizient in allem, was sie tat. So konnte sie ca. 400 km pro Tag zurück legen. Eine schier unfassbare Leistung - die Dame ist 24 Jahre jung, hat gerade ihr Medizinstudium beendet und vor dem Beginn ihrer Weiterbildung "mal eben" das Transcontinental gewonnen (vor den Männern)... Zyniker würden sagen, es gewinnt, wer sich am meisten quält. Aber das wäre sehr eindimensional. Es hat wohl auch mit der eigenen Wahrnehmung zu tun, die manche Menschen mehr, andere weniger lenken können. Sicherlich war es das Gegenteil von Zuckerschlecken, auch für Fiona. Aber es gibt kaum ein Bild von ihr, auf dem sie nicht sympathisch lächelt, als täte sie gerade genau das, was sie möchte. Wie sie es schafft, genau das zu wollen, was sie gerade tut, das bleibt freilich ihr Erfolgsgeheimnis.

Ich möchte jedenfalls nicht gewinnen. Ich will eigentlich nur zur (Finisher-)Party. Aber auch das erfordert bereits ein hohes Maß an Konzentration und Disziplin, was mir bewusst wird, als ich Weimar verlasse, ohne wenigstens einen Kaffee genommen zu haben. Egal, die nächste Stadt ist Jena. Von der Autobahn aus sieht man dort nur eine riesige Plattenbausiedlung, die ich vom ersten Anblick an einschüchternd empfand. Aber das Zentrum dieser weiteren Universitätsstadt soll eine tolle, belebte Altstadt haben, die ich noch nicht kenne. Hier will ich mir ein kleines Päuschen gönnen. Auf einer Bank in einer Einkaufsstraße nehme ich ein (leider nur mittelmäßiges) Eis. "Na, so toll ist das hier auch alles nicht...", denke ich etwas enttäuscht. Erst als ich die Stadt verlassen möchte, finde ich den "schönen Teil" der Altstadt. Kurzentschlossen kaufe ich bei einer Gemüseasiatin (in NRW sind die meisten Gemüsehändler türkischstämmig, in den neuen Ländern werden sie oft von Asiaten betrieben) Wasser und einen leckeren, frischen Obstsalat, bevor es weiter geht.

Als ich auf der Ausfallstraße bin fällt mir plötzlich auf, wie schwül es geworden ist. Inzwischen weht ein Westwind (Rückenwind = gut), aber im Westen sind auch bedrohlich dunkle Wolken zu sehen (dunkle Wolken = schlecht). Bald bekomme ich vereinzelte Tropfen ab, und kurz bevor es in einen Sturzregen übergeht, finde ich Zuflucht - in einer Bushaltestelle. Ich checke drei verschiedene Wetterapps, die leider auch drei verschiedene Einschätzungen der aktuellen Wetterlage abgeben - zwischen "es gibt keinen Regen" und "Dauerregen für den Rest des Tages" liegt die App von Wetteronline mit "in 15' ist es vorbeigezogen". Ich beschließe, der Wetteronline-Prognose eine Chance zu geben und werde belohnt: Der starke Regen ist bald vorbei und danach tröpfelt es nur noch unmotiviert vor sich hin (Empfehlung: Wetteronline). Mit dem Wetter hat sich jedoch auch meine Stimmung eingetrübt: Es sind noch 120 km bis nach Freiberg. Es hilft nichts, Regenjacke drüber und weiter. Eigentlich komme ich gut voran und die Landschaft ist schön: Nadel- und Mischwälder wechseln sich mit Wiesen und Feldern ab. Ich habe auch keine direkten körperlichen Probleme. Aber irgendwie fehlt mir der blaue Himmel und überhaupt habe ich in den letzten 36 h schon reichlich Zeit auf Argos Rücken verbracht. Dass ich keine Lust mehr hätte würde der ganzen Situation nicht gerecht, aber meine Motivation ist mal eben 2 Etagen nach unten gegangen. Wenn das jetzt schon so ist, wie soll das dann bei einem Rennen über 8 Tage sein? Ich erinnere mich an ein Mantra der Langstreckenradler: "Wenn es gut ist, dann wird es schlecht werden. Und wenn es schlecht ist, dann wird es wieder gut werden.". Diese Stimmungsschwankungen gehören offenbar dazu. Ich versuche mich bei Laune zu halten und denke an das liebe, schöne Freiberg. Stelle mir vor, wie ich zufrieden auf dem Obermarkt auf "meiner" Bank sitze, einen Döner esse und ein Bier trinke (wie zu Studienzeiten). Aber das scheint noch so weit weg, dazwischen liegen, eigentlich lächerliche aber mir gerade unüberwindbar scheinende, 120 nasse Kilometer. Ich denke an die ausgeglichene Fiona und Mark Beaumont. Letzterer hält den Rekord im mit dem Fahrrad um die Welt fahren (in unter 79 Tagen). In einem Interview sagte er einmal, dass es ihm nicht helfe, an das Ziel zu denken, da dieses unter Umständen noch unendlich weit weg sei. Das Beste wäre es, Gefallen an dem zu finden, was man gerade tut ("appreciate what you are doing" - mir fällt keine deutsche Übersetzung ein, die es so auf den Punkt bringt). Den Teil habe ich verstanden, und er trifft auf alles im Leben zu: Jede Anstrengung fällt einem umso leichter, je weniger man sie als solche begreift (sei es ein privates oder berufliches Projekt, ein Hausbau oder eine Dissertation). Aber wie schafft man es seine Gedanken zu lenken? Vielleicht hilft es zu akzeptieren, dass manche Unannehmlichkeit einfach dazu gehört. Also denke ich an ein weiteres Mantra: "If you are going through hell, keep going!". So schlimm ist es gottseidank noch nicht mal, aber ich mache einfach weiter, weise mich selber immer wieder auf schöne Dinge hin, und irgendwann greift das erste Mantra: Es wird wieder gut. Übrigens just in dem Moment, als ich einen Wegweiser nach Freiberg sehe, mit Entfernungsangabe - nur noch 18 km :)

Schöner Obstsalat...

Schöner Wald...

Schöne Stromschnellen...

Schöne Blüten...

... und wieder gute Laune!


Nun geht es schnell und gegen halb elf passieren wir das Ortsschild. Ich ahne dass ich, einmal im Hotel, nicht mehr ausgehen werde, und kaufe mir direkt einen Döner und ein Bier (Freiberger Pilsner!). Im Zimmer wasche ich schnell meine Kleidung, staunend über den Dreck, der sich in 2 1/2 Tagen angesammelt hat. Nach einer Dusche nehme ich, im Bett sitzend, mein Abendessen, begeistert von der Stille im Zimmer. Als ich mich dann in den Federn ausstrecke fühlt es sich für mich eben so luxuriös an, wie Schloss Friedenstein sich für Ernst den Frommen angefühlt haben muss, und nach Sekunden nimmt mich ein tiefer, dunkler Schlaf in seine Obhut - gute Nacht für heute.

2 Kommentare:

  1. Was für eine wunderbare Radtour! Für uns Hobbyfahrer eine unvorstellbare Leistung.... Aber ebenso wunderbar sind die Reiseberichte! Man fühlt sich mitgenommen auf die Tour und erinnert an Schauplätze die man kennt. Und letztendlich ist es das "Beiwerk" aus radtechnischen, kulturellen und philosophischen Beschreibungen was die Berichte in meinen Augen so besonders und lesenswert macht. TOLL! Ich frage mich, wie man das Schreiben noch in den ohnehin durchgetakteten Plan integriert... Ich bin gespanntauf das was noch kommt.
    Viele Grüße und weiterhin Gutes Gelingen bei den geplanten Touren!

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    1. Hallo Kirsten,

      wie schön dass Du immer noch / wieder mit liest! Ich freue mich sehr dass es Dir gefällt - vielen Dank :)

      Viele Grüße,

      Thomas

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