Dienstag, 16. Juni 2020

Nightride

In Bens Velospektive (einer meiner Lieblingsblogs) habe ich einen Eintrag über eine nächtliche Fahrt durch das westliche Ruhrgebiet gelesen. Ben ist ein guter Typ und obwohl er wirklich fit ist, geht es in seinen Berichten um weit mehr als nur stumpfes Trampeln, Material oder Training... Jedenfalls schildert er, wie er Ende Mai alleine die Strecke der "Night of the 100 Miles" (eigentlich eine Gruppenausfahrt, die in diesem Jahr wegen Corona abgesagt wurde) nachgefahren ist. Start abends in Essen, dann über Mülheim, Duisburg, Oberhausen, Bottrop bis nach Herten, wo man, pünktlich zum Sonnenaufgang, auf der Halde Hoheward ankommt. Wuppertal gehört ja bekanntlich nicht zum Ruhrgebiet, aber nachdem ich inzwischen seit fast 12 Jahren in Oberhausen arbeite, ist mir die Region zur Heimat geworden. Außerdem beschreibt Ben sehr schön seine Empfindungen über das nächtliche Radeln, seine innere Zwiesprache, das Gefühl der Einsamkeit und wie er es überwindet. Noch bevor ich seinen Bericht zu Ende gelesen habe ist mir klar: Das möchte ich nachfahren :)

Es ist Freitagnachmittag, Ende Mai, und heute soll es sein. Das Wetter ist unwirklich schön und so soll es auch auf unbestimmte Zeit bleiben - perfekte Bedingungen. Wie üblich dauern die Vorbereitungen länger als gehofft, aber heute bringt mich das nicht aus der Ruhe: Ich werde ohnehin die ganze Nacht unterwegs sein und morgen habe ich nichts vor, als einen nachmittäglichen Kaffee mit einem Freund zu nehmen. So versuche ich von Anfang an diese Fahrt anders anzugehen, als die Fahrt nach Freiberg. Dies soll keine strenge Rennsimulation sein, ich möchte mich treiben und die Eindrücke auf mich wirken lassen. Ein bisschen für die Erfahrung, aber hauptsächlich zu meinem Vergnügen. Inzwischen ist es halb acht, ich bin noch damit beschäftigt, Argos seine 35 mm Crossreifen aufzuziehen (Ben hat die Strecke auf seinem Hardtail gemacht) und damit reichlich spät dran. Aber aus dem Radio singt Aloe Blacc "Better Than Ever" und er hat Recht - ich bin allerbester Laune.

Es ist bald halb neun als wir losfahren. Zum Start nach Essen geht es über Ratingen und Mülheim. Keine Wolke ist am Himmel, die Sonne übergießt alles mit ihrem goldenen Licht, Menschen genießen den Freitagabend, vor uns allen liegt ein frisches Wochenende mit seinen Verheißungen. Zwischen Ratingen und Mülheim überhole ich einen Typen auf seinem Trekkingrad, der ein paar Kilometer friedlich in meinem Windschatten mitfährt. Dankenswerterweise ist er nicht auf ein Scharmützel aus, und als sich unsere Wege trennen verabschieden wir uns voneinander. Eine respektvolle Begegnung unter Radfahrern :) Bei Mülheim überquere ich zum ersten Mal die Ruhr und bin begeistert, wie ländlich und grün es hier ist - und wunderschön.

Endlich unterwegs

Eine Kirche in Breitscheid

Die Ruhr...


... und die Ruhrtalbrücke - klasse, oder?! :)

Hmmm, Vulkanisierpaste :)

Als ich gerade durch eines der gediegenen südlichen Mülheimer Wohngebiete rolle, höre ich plötzlich ein Rauschen von Argos Vorderrad. Pffffffffft - kommt das aus dem Gulli oder vom Reifen? Nach ein paar Metern ist die Sache klar: Wir haben einen Platten. Egal, ich habe alles dabei und die ganze Nacht Zeit. Bewusst nehme ich mir vor, mir meine gute Laune nicht verderben zu lassen und mache mich ans Werk. Und anstatt einfach einen neuen Schlauch einzuziehen, nehme ich mir die extra 5 Minuten und flicke den alten Schlauch - TipTop ;) Bevor ich den Reifen wieder aufziehe, suche ich im Bereich des Flickens nach der Ursache der Perforation im Mantel - merkwürdig, nichts zu sehen. Plötzlich fällt mir auf, dass der Flicken auf der inneren, der Felge zugewandten Seite sitzt. Hmmm. Mein Vater hatte mal ein zu dünnes Felgenband, was ihm eine schöne Plattenserie bescherte... Ich sehe mir die Felge an und tatsächlich: Das Felgenband bedeckt an manchen Stellen nicht die scharfkantigen Löcher der Speichennippel! Welcher Trottel hat das denn so nachlässig gemacht?! Ich selber, muss ich mir kleinlaut eingestehen. Aber gottseidank habe ich den alten Schlauch geflickt - mit einem neuen Schlauch hätte ich den Fehler nicht bemerkt und wahrscheinlich nach wenigen Kilometern wieder einen Platten gehabt. Also Glück im Unglück. Schnell den Fehler behoben, zusammen gepackt und weiter gehts.

Bald komme ich durch Essen Frohnhausen und schließlich nach Altendorf. Hier ist es Ruhrgebiet, wie ich es mag. Bunt, authentisch und nicht zur Unkenntlichkeit gentrifiziert. Ich denke an die pittoresken Ortschaften in Hessen, Thüringen und Sachsen, durch die ich letztes Wochenende fuhr. Im Vergleich dazu springt einen die Schönheit von Essen Altendorf nicht direkt an: Zweckmäßige Nachkriegsarchitektur statt Fachwerk, dunkle Hinterhöfe statt gepflegter Blumenbeete - aber quirlige Atmosphäre und Menschen aus aller Herren Länder in den Straßen. Zärtliche Heimatgefühle für eine (vordergründig) raue Gegend: Ich bin froh in Nordrhein-Westfalen zu leben.

Die Essener Skyline

Argos, bereit mich durch die Nacht zu tragen

Diese Sommerabende...

Gegen 22.20 Uhr erreichen wir das Cafe Radmosphäre. Natürlich ist es geschlossen, aber ich pausiere 5 Minuten an dem künstlichen See und nehme die Abendstimmung in mich auf: Menschen flanieren, trinken ein abendliches Bierchen oder rauchen eine Shisha. Entspannte Freitagabendatmosphäre, alle stimmen sich auf das Wochenende ein, jeder auf seine Art. Und so fahren wir los. Über eine alte Bahntrasse raus aus Essen, zurück nach Mülheim, wo es in verwirrendem ZickZack durch Wohngebiete, Wälder und Felder geht. Immer wieder sehe ich im letzten Abendlicht im Westen die Duisburger Skyline, immer wieder erkenne ich plötzlich überrascht, wo wir gerade sind. Dieser Teil des Ruhrgebietes ist wirklich sehr schön und ländlich - der Weg der "Night of the 100 Miles" ist toll gewählt! Allerdings bin ich froh, noch auf die Cross-Reifen gewechselt zu haben. Es geht reichlich über Stock und Stein. Von einer Stelle hatte Ben berichtet, dass sie so zugewachsen war, dass es kein durchkommen gab. Ungläubiger Thomas, der ich bin, muss ich es selber erfahren. Ben hatte natürlich Recht: Es gibt wirklich KEIN Durchkommen und nach ein paar Minuten kommen Argos und ich wieder reichlich zerkratzt (er am Lenkerband, ich an den Beinen) aus dem Gebüsch, ich schmunzelnd über mich selbst. Eine Umfahrung ist schnell gefunden und so geht es weiter in Richtung Duisburger Süden.

Der Blick nach Duisburg

Eine Tragestelle - ungewohnt für einen Rennradler

Inzwischen ist es nach 0 Uhr und ich horche vorsichtig in mich hinein. Wie ist denn nun das werte Befinden? Immer noch gut. Ich ahne bereits, dass ich es nicht zum Sonnenaufgang auf die Halde schaffen werde - mein gewohntes Rennradtempo kann ich auf den schmalen Stock-und-Stein Pfaden nicht halten. Aber das Gefühl der Einsamkeit ist dieses Mal viel weniger ausgeprägt. Ich denke an Ben, der vor wenigen Wochen auf dem selben Weg unterwegs war. Obwohl ich ihn nicht persönlich kenne, ist er mir eine imaginäre Gesellschaft. Dann befahre ich einen Teil der Dunkelrunde, auf der ich im Winter mit meiner Rennradgruppe unterwegs bin - und lasse mich im Geiste von meinen Mitfahrer/innen begleiten. Und dann komme ich immer wieder durch belebte Gegenden, wie dem RheinPark in Duisburg Hochfeld. Wie im Süden sitzen die Menschen draußen und genießen die laue Nacht - ich bin nicht der einzige, der noch wach ist. Der größte Unterschied zu meiner letzten Fahrt in die Nacht ist aber, dass ich mir selber keinen Druck mache. Das ist dieses Mal einfach: Ich werde ja ohnehin die ganze Nacht unterwegs sein und morgen kann ich mich erholen und muss nicht wieder für 12 Stunden aufs Rad - insofern ist es leicht, entspannt zu sein. Aber es macht doch einen riesigen Unterschied wenn man es schafft, im Kopf den Schalter umzulegen und sich nicht krampfhaft an selbstgesetzte Ziele zu klammern. Es kommt wie es soll. Und so lasse ich mich weiter treiben und genieße die diebische Freude eines Kindes, was ausnahmsweise die ganze Nacht aufbleibt.

Das liebe Duisburg

Die RheinOrange (in der Bildmitte)

Wau!

Irgendwo in Meiderich, es ist inzwischen halb zwei, sehe kurz vor einer Unterführung ein paar Typen auf dem Boden Knien und mit etwas herumhantieren. Ach Herrje, Junkies?? Nach ein paar Metern der nächste, auch er hantiert mit etwas - pffffffft - nix Junkies, es sind Sprayer. Oh Mann, da hat mir doch dieses Schubladendenken in meinem eigenen Kopf schon wieder eine Falle gestellt. Aber das ist ja okay, man muss nur bereit sein, sich auch vom Gegenteil überzeugen zu lassen. Das mache ich dann auch, und bewundere die Werke im Tunnel. Können, Intelligenz und Chuzpe - die Arbeiten haben wirklich Klasse!


Gegen 2 Uhr merke ich, dass ich plötzlich müde werde und auch meine Stimmung abzurutschen droht - es sind weniger Menschen unterwegs, mir wird langsam kalt und bewusst, dass es noch eine lange Fahrt wird. Chris White schreibt, dass das emotionale Empfinden beim Radeln stark vom Zustand der Energiereserven abhängt. Also gut, ein Keks und ein warmer Kaffee haben noch nie geschadet. An einer 24h-Tankstelle mache ich eine Pause, kaufe noch ein paar weitere Snacks und ziehe Arm-, + Beinlinge und Regenjacke (gegen das Auskühlen) an. Als es weitergeht, fühle ich mich direkt wieder behaglich - bereit für die Nacht.

Bald kommt der Landschaftspark Duisburg-Nord, ein ehemaliges Hochofengelände, was heute als Freizeitgebiet genutzt wird. In den ehemaligen Kohlebunkern unterhält die Duisburger DAV-Sektion  einen tollen Klettergarten, im ehemaligen Gasometer kann man tauchen, im Sommer gibt es hier ein feines Programm-Sommerkino und natürlich gibt es die obligatorisch bunt beleuchteten Schornsteine. Ich verbinde viele gute Erinnerungen mit diesem Gelände. Aber irgendwie macht es mich dieses Mal  auch etwas betroffen: Diese Hochöfen waren früher produktiv, gaben vielen Menschen Arbeit und der ganzen Region eine Identität. Was inzwischen daraus geworden ist, erinnert mich an einen prächtigen, ausgestopften Tiger, einen traurigen Zeugen dessen, was einmal war und nicht mehr wird. Hoffentlich wird dieses Schicksal "meiner" Firma erspart bleiben - ein paar bunt beleuchtete Schornsteine wären ein schwacher Trost. Düstere Gedanken in finsterer Nacht, die ich schnell abschüttele. Und dann komme nach Sterkrade, dem Oberhausener Stadteil, in dem ich arbeite. An einer 24h-Tankstelle pausiere ich noch einmal. Eigentlich brauche ich nichts, aber die Aral am Sterkrader Tor scheint ein Treffpunkt der Nachtschwärmer zu sein. Ich kaufe eine Packung Prinzenrolle und atme noch einmal tief das Treiben der Nachmenschen ein - bevor ich wirklich in die Nacht abtauche.

Der Weg führt nach Norden, raus aus Sterkrade, direkt in den Wald. Die Gegend erinnert mich an das Emsland: Kiefernwälder, sandiger Boden und rot verklinkerte Häuser (im Moment gibt es kaum welche) - so geht es offenbar vom nördlichen Ruhrgebiet bis zur Küste. Das Fahren im Sand ist zum Teil ziemlich mühselig - an manchen kurzen Stellen muss ich absteigen und schieben. Im Geiste rechne ich nach, wann voraussichtlich auf der Halde sein werde - eine Stunde nach Sonnenaufgang - eineinhalb Stunden nach Sonnenaufgang - ... Egal. Am Ende werde ich schon ankommen. Anstatt mir selber Druck zu machen, beobachte ich die Nacht - und die Tiere. Ich bewundere einen großen Hasen, wie er mit kraftvollen Sprüngen vor mir das weite Sucht, elegant fast wie ein Pferd, sehe neugierige Marder, die erst im letzten Moment wieder verschwinden, überrasche ein paar Rehe, die dachten nun endlich ihre Ruhe zu haben, bin genervt von ein paar Kaninchen, die unmittelbar vor Argos Haken schlagen, anstatt einfach zur Seite zu laufen, und irgendwann grüße ich auch noch einen schlauen Fuchs, der aber so tut als hätte er mich nicht gesehen und sich schnell wieder unsichtbar macht. Als ich gegen 3 Uhr morgens in einem Moor die Frösche quaken höre, sehe ich, dass der Himmel im Osten bereits ein wenig heller scheint. Aber so langsam das Licht am Abend die Bühne verließ, genau so langsam kommt es nun zurück. Wieder blaue Stunde, herrlich.







Gegen viertel nach vier finde ich in Kirchhellen einen Bäcker, der sich noch für den Tag vorbereitet, und nehme ein erstes Frühstück. Als ich weiter fahre merke ich, dass ich nicht unangenehm, aber doch gemütlich müde bin: Ich fahre einfach langsamer und möchte ich am liebsten bei jedem Bäcker eine Pause machen... Aber es wird immer heller und das hilft. Außerdem bin ich langsam wieder in der Zivilisation - und ab halb fünf ist zu meiner Überraschung schon wieder manches Auto unterwegs.

Über Gladbeck, Bottrop, wieder Gladbeck und Gelsenkirchen schlängelt sich mein Weg in Richtung Herten, und irgendwann gegen kurz nach acht komme ich tatsächlich auf der Halde an. Die Sonne ist bereits vor 2 1/2 Stunden aufgegangen, aber das stört mich nicht. Die Sicht ist genial und ich bin einfach froh, dass ich nun hier bin. Ausgiebig sehe ich mich in alle Richtungen um, knipse ein paar Fotos und mache sogar für eine Viertelstunde die Augen zu.





Irgendwann reiße ich mich los - mein Bett zu Hause wäre jetzt auch nicht schlecht. Bis dahin sind es noch rund 50 Kilometer quer durch das Ruhrgebiet. Durch Gelsenkirchen geht es in Richtung Essen, vorbei an der Zeche Zollverein. In Rüttenscheid nehme ich bei einem Bäcker noch ein drittes, sehr ausgiebiges Frühstück, aber gegen halb eins (mittags) komme ich endlich zu Hause an.

Diese Fahrt war ein wirkliches erfüllendes Erlebnis: In der Nacht nimmt man andere Dinge anders wahr. Und wenn man sich einfach treiben lässt, wie ich in dieser Nacht, dann kann man es wirklich genießen (natürlich hatte ich auch perfektes Wetter...). Wahrscheinlich ist eine Nachtfahrt überall ein Erlebnis, aber hier hat es mir einfach nochmal besonders gut gefallen. Die Strecke zeigt einem ganz unterschiedliche Gesichter dieser Region, die ihren Charakter alle gemeinsam ausmachen - toll. Bestimmt auch tagsüber ein Erlebnis - aber am besten mit einem Mountainbike (oder sehr robusten Rennrad). Und am besten nimmt man sich für den Folgetag keine weiteren Heldentaten vor ;) Gute Nacht für heute.

Müde aber glücklich

4 Kommentare:

  1. Cooler Bericht, Thomas. :-)

    Hatte den Link zu deinem Blog doch noch abgespeichert, wie ich heute festgestellt habe.

    Dir weiterhin viel Spass bei deinen Touren und halte uns weiterhin auf dem Laufenden! LG Julian

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    1. Dankeschön, Julian! Schön dass Du wieder mitliest :)

      Liebe Grüße,

      Thomas

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  2. Ganz toller Bericht, Thomas!

    Habe mich ein bisschen gefühlt, als ginge ich ein zweites Mal auf die Reise.
    Danke auch für Deine netten Worte über mich und meinen Blog. Ich finde, Du hast auch eine wunderbare Art, die Dinge zu beschreiben. Wir haben anscheinend einen ganz ähnlichen Blick auf die Dinge...

    Grüße!
    Benni (von velospektive.net)

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    1. Vielen herzlichen Dank, Benni, für Deinen Kommentar und auch die Inspiration zu der Tour :)

      Liebe Grüße,

      Thomas

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