Samstag, 23. Mai 2020

Auf nach Freiberg (Teil I)

Es ist Mittwoch Nachmittag, gleich soll es losgehen. Pünktlich nach der letzten Online-Konferenz mit den Kollegen (es ist 👑-Zeit) möchte ich eigentlich auf Argos sitzen und losreiten. Meine Packliste ist sogar bereits fertig - ansonsten habe ich jedoch noch nichts vorbereitet. "Das wird doch nicht so lange dauern", denke ich, und lerne meine erste Lektion (leider zum wiederholten Male), bereits vor der Abfahrt: Es dauert immer alles länger als angenommen. Wo war noch gleich das Flickzeug, die Kette muss ja noch abgeschmiert werden, nur noch schnell die Aero-Bars dran, aber dann muss ich ja die Lampe umbauen, und wie sieht eigentlich die Küche aus... Ich bewege mich wie in einem dieser Zeitlupen-Alpträume, nur der Sekundenzeiger wird immer schneller. Endlich, gegen kurz vor acht (also abends), sitze ich auf dem Rad und wir rollen los.

Endlich bereit

Es geht in Richtung Süden aus der Stadt, Oberbilk, Wersten, Holthausen - ziemlich Hauptstraße und inzwischen auch wieder ziemlich viel befahren. Aber ab Benrath wird es schön. Es geht am Rhein entlang, grün die Bäume, blau der Himmel, golden das Licht, und die Menschen, sozial ausgehungert nach zwei Monaten Lockdown, alle draußen (wie ich ja auch). Alles mit Abstand, natürlich.

Vater Rhein bei Benrath
Vater Rhein bei Benrath

Und die Schatten werden länger
Die Schatten werden länger

Ich mag die rechte Rheinseite südlich von Düsseldorf: Urdenbach, Baumberg, Monheim haben fast etwas Magisches, besonders in dieser sanften Abendstimmung. Allerdings bin ich nicht so richtig entspannt: Mein heutiges Ziel ist eine Schutzhütte im Wald, in der Nähe von Greifenstein, einem Örtchen am Ostrand des Westerwaldes - rund 150 km entfernt. Wenn ich noch eine Pause mache werde ich gegen 2 Uhr nachts ankommen. Ganz schön spät. Es ist das erste Mal, dass ich so tief in die Nacht fahre und auch das erste Mal, dass ich biwakieren werde (abgesehen von der Bundeswehr-Zeit). Beides ist wichtig zur Vorbereitung auf das Three Peaks, aber mir ist auch etwas mulmig zu Mute. Aber noch ist es schön. Inzwischen ist die Sonne untergegangen, die "Blaue Stunde" angebrochen. Ich komme durch Leverkusen und Köln-Mülheim, und hier brummt das Leben: Buntes Treiben auf den Straßen, vor Läden die Brautmoden, Gegrilltes, Gemüse und Süßes verkaufen. In der Luft liegt ein Duft von Holzkohle, Zitrone und Olivenöl - ein bisschen wie Duisburg-Hochfeld (hach, Duisburg...). Argos kennt dieses Gewusel von den Balkanländern und findet seinen Weg wie ein Fuchs im Dickicht. 

Blaue Stunde...
Blaue Stunde...

... und schwarze Nacht (aber gutes Licht)
... Schwarze Nacht (aber gutes Licht)


So geht es aus Köln heraus, Siegburg und dann - ja dann? Die Straße biegt in Richtung Südosten ab, es geht langsam bergauf, ich passiere einen Ortsausgang und sehe dass der nächste Ort (nennen wir ihn "Nirgendwotupfingen") 16 km entfernt ist. "Das kann doch nicht sein, 16 km keine Ortschaft?!", denke ich bei mir, und schon verschluckt mich die Dunkelheit. Plötzlich ist es Nacht, die Straße windet sich durch Wälder und Felder empor, selten überholt mich ein Auto und ich habe noch knapp 100 km bis zu meinem Ziel - einer Hütte im Wald, die ich bei Google-Earth meine gesehen zu haben. Beklommenheit steigt in mir auf. Die ganze Welt ist zu Hause, geht bald in Geborgenheit ins Bettchen, während ich mutterseelenallein durch die Nacht strampele, zu einem ungewissen Ziel - was wenn die Hütte voller Scherben ist oder andere, also echte, Obdachlose dort hausen? Aber es sind gar nicht so sehr rationale Überlegungen, es ist einfach ein Gefühl der Unsicherheit, Ausgesetztheit und Einsamkeit, das ich aus meinen vertrauten vier Wänden überhaupt nicht kenne. Plötzlich ist all meine Abenteuerlust verschwunden, zärtlich denke ich an mein Bettchen zu Hause und stelle mir vor, was meine Mutter mir entsetzt zu diesem Vorhaben sagen würde (vorsorglich habe ich sie nicht eingeweiht). Ob das wirklich alles das Richtige für mich ist? Ein erfahrener Randonneur hatte mir einmal geraten, "in die Nacht" zu fahren - jetzt weiß ich warum. "Don't scratch at night" steht im Handbuch des Transcontinental Race - "Gib nicht nachts auf". Ich bin noch warm, trocken und ausgeruht, habe eigentlich überhaupt gar kein Problem, aber ich ahne schon jetzt, dass dieser Satz dort aus gutem Grund steht. Also rufe ich mich zur Ordnung, bin rational: In 40 km kommt ein Mc Donald's, dort werde ich Licht sehen und etwas essen und dann kommen noch 50 romantische Kilometer bis zum Ziel. Anders als das Wort übernachten impliziert, ist die  Nacht kein Hindernis, was  überwunden werden muss. Man kann sie schlicht verbringen, drinnen oder draußen. Was für eine Lusche doch diese ganze Zivilisation aus mir gemacht hat! So versuche ich, die Dinge zu sehen wie sie sind: Eine fantastische Sommernacht, die Möglichkeit durch sie zu radeln und die Freiheit das zu tun. Es kostet etwas Selbstbeherrschung, aber ich finde meine innere Ruhe wieder - und irgendwann gegen kurz nach zwei biege ich von der Bundesstraße ab, Kurve ein paar hundert Meter durch den Wald und finde am Waldesrand meine Hütte. Sauber, nicht einsehbar, geschützt gelegen: Wie im Katalog :) Ich bastele mein Bettchen zusammen, nehme eine Magnesiumtablette, putze mir die Zähne, mache Katzenwäsche mit feuchten Tüchern und sprühe eine ordentliche Ladung Desinfektionsmittel in meine Fahrradhose (denn am nächsten Tag werde ich sie wieder tragen). Kurz vor 3 liege ich im Bett. Kein einziges menschengemachtes Geräusch ist zu hören. "Na, war doch alles halb so wild!", denke ich, und mache die Augen zu. Gute Nacht für heute.

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