Donnerstag, 5. November 2020

TPBR 2020: Tag 7 (Buis-les-Baronnies - Nice)

Eine knappe Stunde nachdem ich mich hin gelegt habe, dringt, zunächst entfernt, dann immer näher, Freilaufrasseln in mein dämmerndes Bewusstsein: Mitfahrer! Wer sonst würde hier Freitag um kurz vor 6 entlang radeln? Ich versuche weiter zu schlafen so gut es geht, aber bin doch mindestens halb aufgewacht. Dieser Tage ist mein Körper in einer merkwürdigen Alarmbereitschaft, ständig zwischen Jagd und Flucht. Kurz darauf kommen die ersten Autos sporadisch die Straße entlang gefahren - sssschchchchwwwbrrrrwwwwschchchsss - und ich bin vollends wach. Was soll's. Ich bin mitten im Ort und muss irgendwie meine Schlaf-Boxershorts aus- und meine Fahrradhose anziehen. Vielleicht ist jetzt gar kein so schlechter Zeitpunkt dafür, wenn ich es nicht endgültig vor Publikum machen möchte. Etwas staksig steige ich in meine klamme Fahrradkleidung und packe meine Sachen, mit trotziger Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen, die allmählich beginnen ihren Geschäften nachzugehen. Wenn die wüssten, was für eine albtraumhafte Nacht ich hinter mir habe. So bin ich einerseits erleichtert, als Argos und ich wieder los rollen: Endlich hat dieser Schrecken ein Ende. Wenn ich aber daran denke, was nun vor mir liegt, wird mir angst und bange: Bis Nizza sind es rund 400 km - und über 5000 hm. Ich bin bisher einmal 400 km in einem Rutsch gefahren, von Düsseldorf nach Hamburg. Frisch und bestens ausgeruht, mit kontinuierlichem Rückenwind durch die norddeutsche Tiefebene. Jetzt habe ich in bisher 5 1/2 Renntagen knapp 1800 km zurück gelegt und die letzte Nacht eine Stunde "geschlafen"... "Keine Panik, Ruhe bewahren. Schau nicht auf das große Ganze, konzentriere Dich nur auf das, was jetzt gerade vor Dir liegt. Alles kann, nichts muss. Guck mal, es wird ein schöner Tag! Wie wäre es mit Frühstück? Die Boulangerie sieht gut aus.", muntert Argos mich auf. Weise Worte von meinem treuen Gefährten, und ein feines Näschen für gute Backwaren hat er auch noch. Ich kaufe alles, was ich an duftenden Croissants, Pain au Chocolat, Pain au Raisins und Baguette eben transportieren kann und hinter der nächsten Ecke finde ich tatsächlich ein Café, was bereits geöffnet hat. Ob das Schicksal diese Schreckensnacht wieder gut machen möchte? Bei dem munteren Barmann bestelle ich drei Cafés, die ich im Stehen nehme. Immer noch etwas wackelig, stelze ich zurück zu Argos - Zeit für die Morgenapotheke. Eine Magnesiumtablette, ein Beutel Elektrolyte (Magnesium ist auch nicht alles im Leben), ein paar Vitamine, ein Beutel Maaloxan und, zur Feier der überstandenen Nacht, Paracetamol (tatsächlich habe ich etwas Kopfweh - keine Sorge, es ist das erste Mal im Rennen). Vor den Augen der männlichen, etwas in die Jahre gekommenen Stammkundschaft des Ladens spüle ich meinen Medikamentencocktail herunter und bin fast überrascht, dass ich keinen Kommentar bekomme. Aber was sollen die Herren mit ihren Frühstücksschnäpsen auch schon sagen...

Als wir wieder losrollen, fühle ich mich verblüffend gut - Koffein, Kohlenhydrate und Paracetamol - es gibt einen Grund, warum es ganz oben auf der Wunderliste steht. Aber es ist auch ein wunderschöner Tag und schlicht eine traumhafte Gegend, lieblich, friedlich und abwechslungsreich. Ich hatte das immer für ein Klischee gehalten, aber tatsächlich duftet es überall nach Kräutern und Lavendel. Trotz der Strapazen der letzten Tage ist das Radeln hier ein reiner Genuss. Und so legen sich auch meine Unruhe und Sorgen über das, was vor (und hinter) mir liegt. Im Moment ist alles bestens und um alles andere kümmere ich mich, wenn es soweit ist. Der erste Pass des Tages ist zugegebenermaßen nicht allzu hoch, aber dafür geht er auch wie von selbst. Von oben fällt mein Blick ein letztes Mal zurück zum Mont Ventoux, dem "Giganten der Provence". Aber dann ruckt Argos ungeduldig in die Abfahrt und zwingt mich, nach vorne zu schauen - in Richtung Nizza.

Ein neuer Tag



Auf der Straße

In der Ferne der Mont Ventoux

Ein gutgelaunter Landstreicher

In Richtung Nizza

Die nächsten 50 Kilometer bis Sisteron geht es hauptsächlich bergab oder ist es eben. Sehr angenehm, auch mal mühelos und zügig einige Kilometer abzureißen - noch dazu in dieser traumhaft schönen und abwechslungsreichen Gegend. So erreiche ich Sisteron bestens unterhalten gegen viertel vor zwölf. Bis zur nächsten Ortschaft sind es über 50 km und dazwischen liegt ein einsamer Pass zur heißesten Zeit des Tages - sensationelles Timing. Im Renn-Handbuch wurde sogar extra darauf hingewiesen, sich in Sisteron nochmals ausreichend mit Proviant und vor allem Wasser zu versorgen. Also verlassen Argos und ich die vorgegebene Route und betreten die Altstadt. Sisteron ist ein nettes Örtchen und dementsprechend sind viele Touristen unterwegs. Etwas irritiert von der ungewohnt hohen Menschendichte finde ich gottseidank bald einen tollen Eisladen mit lokalen Sorten wie Lavendel und Génépi (Edelraute, woraus man in den Westalpen einen wunderbaren Likör macht...). Ich mache der freundlichen Dame ein Kompliment und frage sie nach der nächsten Boulangerie, woraufhin sie mich ans andere Ende des Ortes schickt - die anderen Läden seien... sie schaut widerwillig. So schiebe ich Argos quer durch den Ort, aber dafür werde ich tatsächlich mit einer außergewöhnlichen kleinen Bäckerei belohnt, in der es allerlei lokale Spezialitäten zu kaufen gibt. Und der Rückweg zu dem Punkt, an dem ich die Route verlassen habe (darauf wird peinlichst geachtet), kommt mir dann auch gar nicht mehr so lang vor.




Eine willkommene Erfrischung

Bei Sisteron

Hinter Sisteron geht es zunächst ein paar Kilometer auf und ab, bis der eigentliche Anstieg zum Pas de la Graille über die Montagne de Lure beginnt. Ich merke aber schon, wie unbarmherzig warm es ist - irgendwas zwischen 33 und 35°C. Eigentlich möchte ich die ganze Zeit trinken, aber bis zur nächsten Wasserstelle sind es noch über 45 km. Wieso habe ich nicht einfach eine Flasche Wasser gekauft, anstatt auf meine 1.75 l zu vertrauen? Es kommen noch ein paar kleine Ortschaften, aber anders als bisher in Frankreich, wo es immer und überall Trinkbrunnen gab, gibt es hier nichts - weder eine Quelle, noch einen Kiosk. Ich überlege schon, ob ich einfach jemanden um Wasser bitte. Aber in dieser Mittagshitze ist schlicht keine Menschenseele draußen zu sehen. Sollte meine Karte, in der hier keine Wasserstellen verzeichnet sind, wirklich Recht behalten? Gottseidank nicht. In Valbelle sehe ich einen anderen Rennradler, der sich am Straßenrand an einer kleinen Säule zu schaffen macht. Ein Holländer, der seine Ferien hier in der Gegend verbringt - und der findige Bursche hat tatsächlich einen Trinkbrunnen entdeckt. Erleichtert trinke ich mir den Bauch voll und bin dankbar, dass er hier stand - ohne ihn hätte ich die Quelle nicht gesehen.

Nach einer kurzen Unterhaltung geht es weiter, und nun beginnt auch der eigentliche Anstieg. Über 10 Kilometer schlängelt sich die Straße in westlicher Richtung durch die Flanke des Gebirgszuges bergan, bevor die eigentlichen Serpentinen beginnen. Die Straße ist kaum befahren, es geht durch einen luftigen Nadelwald. Sind das Kiefern? Die Steigung schwankt zwischen 4 und 6 % - also nicht besonders steil. Aber die Straße ist in weiten Bereichen zentimeterdick mit Split bedeckt, an manchen Stellen riecht es in der Hitze unangenehm nach Bitumen. Argos kommt im Split schon ins Schlingern und bald ertappe ich mich bei dem Gedanken: "So ein Elend!". Wegen der moderaten Steigung gewinnen wir nur langsam an Höhe, wegen des Splits ist es dennoch mühselig, es ist heiß, es stinkt und wegen der Bäume, welche die Straße säumen, kann man noch nicht einmal die Aussicht genießen. Schnell ist mir klar: Dieser ist der bescheuertste Pass des Rennens. Irgendwann kommt mir ein französischer Rennradler, schimpfend über die Verhältnisse, entgegen. Nachdem ich bei Schrittgeschwindigkeit schon Schwierigkeiten habe, Argos aufrecht zu halten, möchte ich gar nicht wissen, wie es in der Abfahrt ist. Etwa auf halbem Wege von der Quelle zum Pass habe ich bereits mehr als die Hälfte meines Wassers getrunken und bin immer noch äußerst durstig, als ich an einem Bach vorbei komme. Oh süße Verlockung. Ich sehe mir das Bächlein einen Moment lang an. Frisch und klar fließt das Wasser durch sein steiniges Bett. Kein menschengemachtes Geräusch ist zu hören. Wer sollte dieses Wässerchen schon getrübt haben? Außerdem habe ich doch einen robusten Magen, und schlimmstenfalls wird meine Reiseapotheke es schon richten. Wieder trinke ich, so viel ich kann - es schmeckt ganz köstlich - fülle meine Flaschen und weiter geht es.

Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichen wir endlich den Pas de la Graille. Von hier kann man immerhin ein wenig ins Land schauen. Aber bis zum höchsten Punkt sind es merkwürdigerweise immer noch 150 hm... Als diese geschafft sind, genehmigen Argos und ich uns eine kurze Pause, während der ich mit Begeisterung ein paar Backwaren verputze. Köstlich gestärkt geht es in die Abfahrt. Gottseidank gibt es nur auf der Nordrampe Split, die Südrampe hat einen wunderbar griffigen Straßenbelag. Viele kleine, leicht überhöhte Kurven, die mit kurzen Geradenstücken verbunden sind, die Straße leicht wellig - es ist wie in der Achterbahn, ein Riesenvergnügen. So schnell wie ich diese Auffahrt ganz unten einsortiert habe, so schnell ist klar, dass diese die beste Abfahrt des Rennens ist (Großglockner und Simplon im Regen, Mont Ventoux in der Nacht...). Scharf anbremsen, Argos verbeißt sich in die Kurve, dann ganz klein machen - 55, 60, 65... Plötzlich, auf einer Geraden, trifft mich etwas an der Schläfe, wildes Summen direkt vor meinem Ohr, ein stechender Schmerz und weiter aufgeregtes Summen. Ich lege eine panische Vollbremsung hin, schüttele aufgeregt den Kopf, aber das Summen hört nicht auf. Nach verblüffend langer Zeit komme ich endlich zum Stehen und schlage ohne nachzudenken, unkoordiniert nach dem Geräusch, woraufhin meine Sonnenbrille auf die Straße segelt. Das Summen geht weiter. Das Helmband! Ich nehme den Helm ab, schüttele den Kopf und endlich fliegt die Wespe davon. Eigentlich bin ich nicht allergisch, aber dieser unendlich konzentrierte Schmerz in der Schläfe macht doch Eindruck. In diesem Moment schickt mir Hansjörg eine Nachricht, wie es läuft. Ohne nachzudenken schreibe ich ihm, dass ich gerade in der Abfahrt von einer Wespe in den Kopf gestochen wurde. "Im nächsten Ort gibt es eine Apotheke - ich will ein Bild von Dir darin!", antwortet er mir streng. Vielleicht eine gute Idee. Nach 5 Kilometern finde ich in Saint Étienne les Orgues die Apotheke, in der man mir empfiehlt, sicherheitshalber Ceterizin zu nehmen. Ich tue wie geheißen und schicke Hansjörg das versprochene Bild - und bin danach, trotz Schmerzen, mit einem besseren Gefühl unterwegs.






Am höchsten Punkt
Ihm sieht man die Mühen nicht an...

... Ihm dagegen schon (für Hansjörg)

Irgendwann passieren wir das Tal der Durance, wo es wieder etwas mehr Besiedelung gibt. In Oraison halte ich für ein paar Momente meinen Kopf in das Becken des Brunnens - obwohl es inzwischen halb sechs ist, ist es immer noch unglaublich warm. In einem Laden kaufe ich ein Getränk aus Milch und Saft, was ich gemütlich im Sitzen nehme. Es geht mir nicht schlecht, aber der Gedanke an eine Pause ist doch so verlockend. Ich schaue auf die Trackerseite: Vor mir sind einige Mitfahrer. Wenn ich mich ranhalte... Und etwas motivierter geht es wieder weiter. Nach 40 Kilometern, in einem Ort namens Moustiers-Sainte-Marie, halte ich auf der Suche nach einer Wasserstelle, als ein Mitfahrer sich dazu gesellt. Ohne ihn jemals getroffen zu haben, erkenne ich ihn - er ist Patrick. Ich hatte sein Bild auf der Veranstaltungshomepage gesehen und ihn aus unerfindlichen Gründen direkt sympathisch gefunden. An einem Campingplatz erbitten wir gemeinsam Wasser und fahren anschließend zusammen weiter. Ich bin gespannt, wie sich mein Bild von ihm mit der Realität deckt, und als wir uns unterhalten stelle ich fest, dass er tatsächlich genau so sympathisch ist, wie ich ihn mir vorgestellt habe. Gemeinsam bewundern wir die immer felsiger werdende Landschaft, als wir im letzten Tageslicht in Richtung der Verdon Schlucht radeln. Bis ich mich nach etwa einer halben Stunde zurück fallen lasse. Man soll nicht zu lange gemeinsam fahren.

Bei La Palud sur Verdon macht unsere Strecke eine 23 km lange Schleife um einen Berg, und führt direkt an der Schlucht entlang. Bei Tag muss die Aussicht absolut spektakulär sein. Inzwischen ist es völlige Nacht, aber der Himmel ist klar und es ist kurz vor Vollmond - auch in der Dunkelheit ist es eine einmalige, beinahe magische Stimmung. An einem der zahlreichen Aussichtspunkte halte ich kurz inne, überblicke die Schlucht - und muss unmittelbar an einen Abschnitt aus dem Gedicht "Roll the Dice" von Charles Bukowski denken, was mich bei den Vorbereitungen für dieses Rennen begleitet hat: "You will be alone with the gods, and the nights will flame with fire...". Und genau so erhaben fühlt es sich an: Alle Hingabe, jeder Verzicht, alle Mühen, alles für dieses Rennen, für diese Nacht, für diesen Moment. Es ist der Höhepunkt einer phantastischen Reise, die für mich am 1. Januar begonnen hat. Als ich Patrick irgendwann wieder überhole, wechseln wir nur wenige Worte: Jeder von uns ist mit sich selber und seinen Eindrücken beschäftigt.

Gegen 23.30 Uhr erreiche ich wieder La Palud sur Verdon. Hier herrscht fröhlich-friedliche Sommerstimmung. Vor den Restaurants sitzen noch Menschen und genießen den Zauber dieser Sommernacht. Ich spüre allmählich, dass ich müde werde - und es sind noch rund 150 km bis zum Ziel. Kurzentschlossen betrete ich eine Bar und bestelle an der Theke 3 Espresso. "Trois Expresso pour vous?!", fragt mich das Mädchen, halb ungläubig, halb amüsiert. "Je dois aller à Nice, en vélo...", versuche ich mich zu erklären, woraufhin sie mich nur schräg ansieht. Dass ich seit meiner letzten Dusche 4 Tage hauptsächlich auf dem Rad verbracht habe und auch sonst recht abgekämpft aussehen muss, ist mir in diesem Moment nicht recht bewusst - oder vielleicht auch einfach egal? Ich schütte den Zucker in meinen Kaffee, rühre und puste, damit er schnell eine erträgliche Trinktemperatur erreicht, schütte ihn eilig hinunter und nach wenigen Minuten rollen Argos und ich wieder los, in die Nacht.



Die Verdon-Schlucht

Fast Vollmond

"Trois Expresso pour vous?!"

Nach einigen Kilometern stoße ich wieder auf Patrick, der mich während meiner Kaffeepause überholt hat. Ich freue mich ihn zu sehen und gemeinsam genießen wir eine kurze, kurvige Abfahrt durch die Felsen - nur fliegen ist schöner. Etwas überdreht von den Eindrücken und dem Kaffee rede ich begeistert auf ihn ein, und erst als er mir irgendwann sagt, dass er sich für ein Stündchen an den Straßenrand legen muss, wird mir bewusst, dass er offenbar müde ist - dass seine Antworten recht einsilbig waren, fällt mir erst jetzt auf. Mit Bedauern verabschiede ich mich und bin nun wieder alleine unterwegs. Noch fühle ich mich gut, aber sobald die Lichter meines Gefährten verschwunden sind, fühle ich, wie die Dunkelheit lauernd näher an mich heranrückt und ahne, dass die vergangenen 36 Stunden bald mit Macht ihren Tribut fordern werden. Früher oder später werde auch ich mich hinlegen müssen. Bald passiere ich einen Mitfahrer, der sich an einer Kreuzung umzieht. Während die Begegnungen mit Patrick von Kameradschaft geprägt waren, gibt der gegenseitige Anblick uns beiden dieses Mal einen Adrenalinschub: Während ich sofort stärker in die Pedale trete, wird er plötzlich hastig, schwingt sich auf sein Rad und beginnt die Verfolgung. Wie ein Tier gebe ich mich meinen Instinkten hin, erhöhe irrsinnig das Tempo, schwankend zwischen Entsetzen und Euphorie, während mein Bewusstsein weit aus dem Hintergrund dieses archaische Schauspiel genießt. Endlich wird das Flackern seines Schweinwerfers weniger, und nach einer Viertelstunde ist er verschwunden - ich bin entkommen. In Castellane beeile ich mich, meine Trinkflaschen zu füllen, aber bevor mein Jäger mich einholt, bin ich wieder unterwegs.

Nach wenigen Kilometern sehe ich dann eine Gestalt vor mir, die merkwürdig langsam fast in Schlangenlinien fährt und, mit verschiedenen Blinklichtern ausgestattet, buchstäblich aussieht wie ein fahrender Christbaum. Ein Mitfahrer - nun bin ich der Jäger. Zügig fahre ich auf die Gestalt auf und quatsche sie munter an. "Eine Mitfahrerin", wird mir plötzlich bewusst: Angela kommt aus Norditalien ist eigentlich Lehrerin, rund 15 Jahre älter als ich und hat schon einige Ultraradrennen erfolgreich bestritten. Während ich bisher jede Nacht ordentlich geschlafen habe, war ihre Strategie, mehr oder weniger durchzufahren, und nur bei Bedarf ein, zwei Stunden am Straßenrand zu ruhen. Kein Wunder, dass sie Schlangenlinien gefahren ist. Aber während wir uns halb auf Englisch, halb auf Italienisch unterhalten, erwachen ihre Lebensgeister und erlischt mein Jagdinstinkt. Eigentlich ist es viel angenehmer, nicht alleine durch die Nacht zu fahren... Aber Angela ist streng und nach 20 Minuten schickt sie mich fort - man darf eben nicht länger zusammen fahren. Also fahre ich vor und kurbele mich den nächsten Pass empor. Kurz vor der Passhöhe fällt die Temperatur schlagartig um 5 Kelvin. Als ich anhalte, um Bein- und Armlinge anzulegen, kommt Angela vorbeigefahren, die bereits warm angezogen ist. In der folgenden Abfahrt hefte ich mich an ihr Rücklicht: Mit einer Mischung aus Perfektion und Todesverachtung stürzt sie sich im funzeligen Licht Ihrer Lampe in die enge, kurvige Abfahrt, dass Argos sich strecken muss, ihr auf den Fersen zu bleiben. Es ist immer eine besondere Freude, in der Linie eines Könners zu fahren. Als wir unten sind, mache ich ihr ein ehrliches Kompliment, woraufhin sie mit ihrer dunklen Stimme herzlich lacht und bestätigt, dass sie Passabfahrten liebe - besonders im Winter...

Angela in der Abfahrt

Irgendwann muss ich etwas Wasser loswerden und lasse sie alleine weiterfahren. Kaum ist sie weg, stürzt die Dunkelheit über mir zusammen, wie eine tosende Welle. Ich bin in einem dichten Nadelwald, den kein einziger Strahl des Mondlichts durchdringt. Irgendwo auf den Serpentinen unter mir flackert ein Scheinwerfer durch die Bäume - und gruselig erwacht mein Fluchtinstinkt. Ich gebe Argos die Sporen und kurbele wie ein Besessener durch den dunklen Wald - hoffentlich sehe ich bald Angelas Lichter vor mir. Wie weit kann sie denn bloß in 2 Minuten gekommen sein?? Irgendwann sehe ich ein Fahrrad vor mir - um dann erstaunt zu erkennen, dass es ein anderer Mitfahrer ist. Mit knappem Gruß und großzügigem Geschwindigkeitsüberschuss schieße ich an ihm vorbei. Ungläubig versucht er, sein Tempo zu erhöhen, aber es ist nur ein kurzes Aufbäumen... Egal. Aber wo ist denn bloß Angela? Sie kann doch unmöglich so weit vorgefahren sein? Als ich gerade beginne zu denken, dass ihr doch wohl hoffentlich nichts passiert ist, sehe ich endlich ihre vertrauten Blinklichter vor mir. Freudig begrüße ich sie - obwohl wir uns erst seit wenigen Stunden kennen, fühlt es sich an, als würde ich eine alte Freundin treffen.

Als sich im Osten der Himmel verfärbt, sind es noch rund 40 km bis zum Ziel. Genauso schnell, wie am Abend die Nacht über uns gekommen war, zwingt nun der Tag mit Macht die Dunkelheit zurück. Bald kann ich das Meer und eine Stadt sehen - das muss doch Nizza sein? Unvermittelt ziehe ich das Tempo an, woraufhin Angela mich zurück hält: "Ruhig - es sind noch über 30 Kilometer.". Sie hat Recht. die letzten Kilometer ziehen sich wie Kaugummi, und obwohl es schon fast wieder hell ist, spüre ich jetzt deutlich die Erschöpfung. Plötzlich will aus den Beinen kaum noch Leistung herauskommen und zweimal rauschen wir beide in der Abfahrt an einer Abbiegung vorbei. Staunend sehe ich an einer Bushaltestelle einen Mann in einem schwarzen Anzug, um dann beim Näherkommen zu erkennen, dass dort keine Menschenseele ist. 15 Kilometer vor dem Ziel habe ich Schwierigkeiten, die Augen offen zu halten. Eigentlich sollte ich zumindest eine Viertelstunde schlafen - aber in spätestens 40 Minuten bin ich im Ziel... Zähne zusammenbeißen, tief durchatmen, trinken, den Kopf bewegen... 10 Kilometer vor dem Ziel merke ich, dass ich Angela verloren habe. Sie war doch gerade noch hinter mir? Egal, sie ist ein harter Knochen - um sie muss ich mir wirklich keine Sorgen machen. Endlich, hinter dem Flughafen, führt unsere Strecke auf die Promenade des Anglais, auf der auch das Ziel ist. Noch gut 3 Kilometer entlang des Meeres. Es ist 7 Uhr morgens, die Sonne ist eben aufgegangen und auf der Promenade sind die ersten Jogger unterwegs. Es ist ein wunderbarer Augenblick, aber ich kann es kaum erwarten, das Ziel zu erreichen. Als ob ein Damm gebrochen wäre, spüre ich plötzlich neben der bleiernen Müdigkeit die völlig ausgelaugten Beine, den wunden Hintern, die tauben Hände, den starren Nacken... Ein Stoßgebet: "Mach dass es zu Ende geht.".

Um kurz nach sieben kommen Argos und ich vor dem berühmten Hotel Le Negresco an - Ziel. Überglücklich begrüße ich Michael Wacker, den Rennorganisator, - und plumpse auf eine Bank, die sich absolut himmlisch anfühlt. Angela kommt nach einer halben Stunde - sie hatte sich am Ende noch einmal großzügig verfahren - und nach und nach trudeln weitere Mitfahrer ins Ziel. Es ist eine fröhliche, erleichterte Stimmung. Essen, Geschichten erzählen, lachen - ein paar Stunden genieße ich einfach den Moment, bis ich merke, dass ich beinahe im Sitzen einschlafe. Höchste Zeit ein paar Stunden zu schlafen. Mit meinem Handy buche ich ein Hotel (drei Mal rutscht es mir dabei um ein Haar aus der Hand, weil ich fast einnicke) und gegen 13 Uhr betreten Argos und ich unser Zimmer. Nach einer sehr gründlichen Dusche stelle ich mir den Wecker für in zwei Stunden, denn ich möchte den Nachmittag im Ziel verbringen und die ankommenden Mitfahrer begrüßen. Und zum vielleicht ersten Mal in meinem Leben schlafe ich, bevor mein Kopf das Kissen berührt. Von dem Wecker bekomme ich absolut nichts mit, und als ich aufwache ist es 1 Uhr nachts. Ich stehe noch einmal auf, verlasse das Hotel, esse eine Pizza, fahre zum Ziel, wo ich tatsächlich Jost treffe, der auch eben angekommen ist und gegen 4 Uhr morgens gehe ich wieder ins Hotel, um noch ein wenig zu schlafen. Gute Nacht für heute.

400 km, 5271 hm, 19.6 km/h.

Auf der Promenade des Anglais

Fühlt sich besser an als es aussieht ;)

Gleißendes Licht und ein frisch eingetroffener Mitfahrer

2 Kommentare:

  1. Hallo Herr Ceyrowsky, der gesamte Bericht über die 7 Tage des Three Peaks Bike Race waren ein Genuss zu lesen. Ihr Schreibstil ist genauso beeindruckend wir Ihre Leistung auf dem Rad. Vielen Dank für Bericht und die tollen Bilder. Grüße von einem, dessen längste Strecke in diesem Jahr 150 km am Stück waren ;-) Dieter Deckenbach

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    1. Ganz herzlichen Dank, Herr Deckenbach, für das schöne Kompliment :) Und auch für Ihre mentale Unterstützung - schön, dass Sie mitlesen :)

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