Samstag, 27. Juni 2020

Eine Segeltour nach Hamburg

4.30 Uhr - der Wecker klingelt. Draußen ist es eher dunkel als hell, Morgengrauen. Oh Gott. Wie fast immer wenn ich etwas vorhabe bin ich sofort wach, aber meine Motivation liegt noch tief in den Federn. Heute soll es nach Hamburg gehen, ich möchte meine Freunde dort besuchen. Eigentlich wollte ich gestern Abend gestartet sein, aber nachdem es am Schreibtisch länger dauerte und dann auch noch anfing zu regnen, habe ich mich kurzerhand umentschlossen. "Nach Norden wird es ja flach, das mache ich dann halt in einem Tag...", dachte ich mir.

Jetzt, wo alle Welt schläft, es draußen noch zwielichtig und nass ist und knapp 400 km vor mir liegen, hätte ich gerne schon 150 km im Rücken. Aber es hilft nichts: Wenn ich morgen mit meinen Freunden frühstücken möchte, soll ich bald los. Warum nehme ich eigentlich nicht einfach die Bahn? Es ist eine Mini-Sinnkrise an diesem Samstagmorgen. Warum tue ich das alles? Bei einem Kaffee lese ich "Roll the dice" von Charles Bukowski. Er war ein schräger, streitbarer Typ, aber sein Gedicht fängt mich auf:

if you’re going to try, go all the
way.
otherwise, don’t even start.
 
if you’re going to try, go all the
way.
this could mean losing girlfriends,
wives, relatives, jobs and
maybe your mind.
 
go all the way.
it could mean not eating for 3 or 4 days.
it could mean freezing on a
park bench.
it could mean jail,
it could mean derision,
mockery,
isolation.
isolation is the gift,
all the others are a test of your
endurance, of
how much you really want to
do it.
and you’ll do it
despite rejection and the worst odds
and it will be better than
anything else
you can imagine.
 
if you’re going to try,
go all the way.
there is no other feeling like
that.
you will be alone with the gods
and the nights will flame with
fire.
 
do it, do it, do it.
do it.
 
all the way
all the way.
 
you will ride life straight to
perfect laughter, its
the only good fight
there is.

Und genau so ist es: Man tut sich keinen Gefallen damit, bei jeder Schwierigkeit die Sinnhaftigkeit einer Unternehmung neu zu hinterfragen. Irgendwann habe ich mich entschieden es zu versuchen und nun werde ich alles tun, was dazu erforderlich ist. Zunächst einmal mich anziehen. Ich streife Hose und Trikot über und wie üblich fühle ich mich in dieser "Uniform" sofort stärker und entschlossener. Die Zuversicht kommt zurück: Es wird schon gehen.

Um 5.30 Uhr reiten Argos und ich los. Es ist bewölkt, hat bis vor kurzem geregnet, die Straße ist reichlich nass. Aber wir sind unterwegs - endlich. Bis Essen ist es der gleiche Weg wie eine Woche zuvor beim Nightride. Dann kommen wieder Gelsenkirchen und Herten, bis wir bei Datteln das Ruhrgebiet gemächlich verlassen. Ich bin erleichtert als es soweit ist: Endlich habe ich das Gefühl, Strecke zu machen. 50 Kilometer vor Münster nehme ich ein ausgiebiges 2. Frühstück bei einem Bäcker. Ich werde von einem Mädchen von höchstens 20 Jahren bedient, mit einer Mischung aus förmlicher Höflich- und Freundlichkeit. Angenehm, aber ein Kontrast zum manchmal schnoddrigen, dafür lustigen Rheinland. Westfalen eben.

Der Blick auf die Ruhrtalbrücke - auch morgens ein Highlight

Gestärkt reiten wir wieder los, aber weit kommen wir nicht: Nach 20 Minuten öffnet der Himmel seine Schleusen und Argos und ich finden Zuflucht unter dem Vordach einer Tankstelle. Eine halbe Stunde vertreibe ich mir die Zeit mit einem bescheidenen Kaffee und denke darüber nach, dass man vor jeder Pause das Wetter betrachten sollte... Immerhin eine Erkenntnis, und besser jetzt mit einer halben Stunde dafür bezahlt als im Rennen.

Bald kommen wir nach Münster, was mir einen Motivationsschub gibt: Ich mag es allgemein, in eine Stadt einzufahren, besonders nach Münster, und ich fühle mich, als wäre ich schon bald in Hamburg. Alles ist interessant, nichts überfordert mich, ich bin im Flow. Dazu kommt ein einmaliger Rückenwind, der Argos vor sich hertreibt. Manchmal ist es ein Kampf, gerade ist es ein Spiel. Inzwischen scheint sogar die Sonne. Hinter Lengerich erhebt sich der Teutoburger Wald, willkommene Abwechslung, freilich von kurzer Dauer: Bei Osnabrück wird es wieder flach. Zählt der Teutoburger Wald überhaupt als Mittelgebirge? Ein Hinweisschild erinnert an die Varus-Schlacht und wie ich so durch den Wald radele stelle ich mir gruselig-wilde Germanen vor - verständlich dass die antike Supermacht der Römer hier ein kollektives Trauma davon getragen hat.

Als ich nach Osnabrück komme, ahne ich bereits dass es die letzte richtige Stadt bis Hamburg sein wird. Rund 230 Kilometer und dazwischen nur "Dörfer" - kaum vorstellbar für einen Nordrhein-Westfalen. Ob es eine gute Idee wäre, noch etwas zu essen? Dieses Mal ist das Erstbeste eher das Erste als das Beste: In einem abgeranzten Laden nehme ich einen Döner, der selbst mir, mit meinem robusten Magen, Sorgen macht. Wird schon gut gehen. Aber etwas enttäuscht bin ich doch.

Nach knapp 30 Kilometern komme ich nach Bohmte, zu meiner Überraschung fast schon eine Kleinstadt. Außerdem ist jetzt Halbzeit - nur noch knapp 200 Kilometer nach Hamburg. Inzwischen fühle ich mich nicht mehr frisch, aber auch noch nicht erschöpft - es wird schon gehen. Halb erleichtert, halb angespannt belohne ich mich mit einem vorzüglichen Eis, bevor es weitergeht. Meine euphorische Hochstimmung hat sich inzwischen in einen rationaleren Optimismus gewandelt - vermutlich besser - und konzentriert geht es weiter. Die nächsten 100 Kilometer sind eher eintönig: Flaches Land, Bauernhöfe, Windräder und Autos mit Kennzeichen "Diepholz" - wie riesig ist dieser Kreis eigentlich?

Segeln vor dem Wind ist angesagt :) (meine endgültige Route ging durch Münster und Osnabrück und nicht durch Bremen - die Windverhältnisse waren aber genau so)

Allmählich verstehe ich, warum sie Kornblumen heißen

Kurz vor Osnabrück



Halbzeitpause

Gegen 19.40 Uhr knacken wir die 300 Kilometer. Erleichterung: "100 km kann man immer irgendwie fahren." - mein persönliches Motto. Und ich fühle mich noch nicht einmal schlecht. Ich schicke eine Nachricht an meine Eltern, dass es mir gut geht und plane die restliche Fahrt. In knapp 2 Stunden werde ich nach Rotenburg an der Wümme kommen, von dort sind es noch 60 Kilometer bis nach Hamburg: Perfekt um etwas zu essen.

In Rotenburg finde ich einen kleinen Pizzaladen und entscheide mich für eine Napoli, die ich auf einer Bank nehme. Rotenburg ist eine Klein- aber doch Kreisstadt: Menschen sind unterwegs und bevölkern die Innenstadt mit ihren Läden. Vor einem eleganten Restaurant sehe ich einen alten Knacker mit einer jungen, hübschen Begleiterin, die nicht nach seiner Tochter aussieht. Sie werden schon wissen, was sie an einander finden. Mir wird langsam kalt, ich bin müde, allmählich reicht es mir. Arm- und Beinlinge an, Regenjacke und weiter. Obwohl ich Pizza abgöttisch liebe, liegt sie mir beim Fahrradfahren oft schwer im Magen, so auch jetzt. Noch 60 km. "Wenn es gut ist, wird es schlecht werden" - es war eine Frage der Zeit. Ich fahre nun entlang einer Bundesstraße, die schnurgerade durch den Wald geht. Am Himmel ist noch Licht, aber die Bäume schirmen uns unbarmherzig davon ab. Irgendwann beginnen die Hügel, unsichtbar in nun völliger Dunkelheit, als ob eine geheimnisvolle Macht einen zurück hält. Der Radweg ist in einem miserablen Zustand, auf der Straße fahren zwar nur vereinzelt Autos, aber dafür brettern sie. Im Zeitlupentempo komme ich voran - Führt diese Straße wirklich ohne Kurven nach Hamburg? Wird sie je ein Ende nehmen? Zermürbend. 20 Kilometer vor Hamburg sehe ich einen Mc Donald's, meine Rettung: Eine große Cola ohne Eis hilft bestimmt. Als ich weiterfahre ist mir zunächst wieder kalt, aber Zucker und Koffein tun was sie sollen und die letzten 15 Kilometer fühle ich mich wieder besser. "Wenn es schlecht ist wird es wieder gut werden.". Gegen 0.50 Uhr komme ich in meinem Hotel an und der freundliche Herr an der 24 h Rezeption empfängt mich ohne mit der Wimper zu zucken. Argos wird sicher verschlossen und ich falle nach 397 Kilometern und einer Dusche ins Bett.





Am nächsten Morgen radele ich zu meinen Freunden, die mich mit den besten Pasticiotti nördlich der Alpen (selbstgemacht!), Kaffee und der besten Pizza nördlich der Alpen (Spaccaforno) wieder aufpäppeln. Grazie, ragazzi! Am Abend steige ich in den IC, der mich nach Hause bringt, wo ich mich bald wieder ins Bettchen lege. Gute Nacht für heute.

Frische Pasticiotti (Mürbeteig gefüllt mit Vanille- oder Pistaziencreme) - am besten lauwarm

So soll eine Pizza aussehen (und schmecken)

4 Kommentare:

  1. Wow, 400 km! Und wieder ein seeeehr toller Bericht! Ein bisschen verrückt bist du ja schon :D :D :D

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  2. Geiler Ride, Thommy! Fast 20h im Sattel! Man hat ja sonst nichts zu tun! ;)
    Und mal wieder ein fabelhafter Bericht!

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    1. Danke, mein Lieber :) Wie hältst Du das nur aus, ohne Fahrrad in KL? ;)

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