Donnerstag, 10. Februar 2022

The Two Volcano Sprint 2021: Prolog

Es ist das zweite Mal, dass ich an diesem Rennen teilnehme; den Eintrag über das letzte Mal, letztes Jahr, bin ich schuldig geblieben. Es war so eindrücklich, so dicht, dass es mir danach schwer fiel, aus diesem Knäuel von Erinnerungen einen roten Faden zu entwirren. Und nachdem ich es zu lange versäumt hatte, meine Gedanken zu ordnen und zu dokumentieren, sah ich keine Chance mehr, eine zusammenhängende Geschichte darüber zu erzählen.

Die Eindrücke, die Empfindungen des letzten Jahres sind mir aber gut im Gedächtnis geblieben. Welche Gegensätze dieses Rennen enthält! Quirlige Küstenorte und entlegene Bergregionen. Strahlendes, goldenes Licht und stockfinstere Nacht. Wohlige Wärme und bittere Kälte. Äußerst bergige Passagen und... - nein. In dieser Hinsicht ist es sehr einseitig: Eigentlich geht es ständig auf und ab. Über 2 % durchschnittliche Steigung hören sich nach wenig an - 2 % kann man doch locker hoch rollen, könnte man denken. Aber da es in etwa eben so viel bergab wie bergauf geht und zwischendurch auch mal kurz eben ist (wirklich nur ganz kurz), fährt man gefühlt die ganze Zeit bergauf. Dann die Kälte. Ende Oktober in Süditalien - man träumt von friedlich-wärmender Nachmittagssonne. Die mag es auch geben. Aber sobald sie fort ist, und man die Küste in Richtung der Berge verlässt, erwartet einen die Nacht mit tiefschwarzer Dunkelheit, niedrigen einstelligen Temperaturen und der Gelassenheit eines Jägers, der weiß, dass er nun über 12 Stunden Zeit hat, sein Opfer zu stellen. Letztes Jahr habe ich keine einzige Nacht draußen verbracht, obwohl ich meine Isomatte und meinen Daunenschlafsack dabei hatte. Es war so kalt und abweisend, ich fühlte mich so ausgesetzt und verlassen, dass mir einfach der Mut dazu fehlte. Als ich damals in der zweiten Nacht unterwegs die Veranstalterinnen traf, fragten sie mich: "So what do you think about the race?" - "It's brutal.", war alles, was ich sagen konnte.

Aber nach der Nacht kommt der Tag und mit ihm dieses einmalige Licht, nach dem wir Mitteleuropäer uns so sehr verzehren. Apropos verzehren: Kulinarisch kann zumindest ich mir nichts besseres vorstellen, als von der besten Pizza der Welt (die Pizza in Neapel ist wirklich eine Kategorie für sich, die nichts mit dem zu tun hat, was einem landläufig als Pizza verkauft wird) zu den besten Arancini der Welt (frittierte und gefüllte Reisbällchen auf Sizilien - eine Sensation!) zu radeln. Die Bilder unterwegs, die Begegnungen, die Probleme mit denen man zu kämpfen hat und die man schließlich überwindet, die tiefe, völlige und ungekannte Entspannung im Ziel und die Gemeinschaft mit den Mitfahrern... Das alles sind einmalige, positive Eindrücke.

Allerdings ist es nicht so, dass ich zwischen den guten und den schlechten Empfindungen abwiegen würde. Vielmehr ist es wie ein Besuch in der Sauna, bei dem alles dazu gehört: Das Schwitzen bis man denkt, umzufallen. Die eiskalte Abkühlung, die einen nach Luft schnappen lässt. Erst die Kombination von Beidem macht das Erlebnis. Und so war mir schnell klar, dass ich mich wieder anmelden würde.

2020 am Etna, vor der letzten Abfahrt ins Ziel


In diesem Jahr geht das Rennen in entgegengesetzter Richtung, also von Nicolosi auf Sizilien nach Ercolano bei Neapel. Zwei Tage vor dem Start fliegen Argos und ich nach Catania. Die Vorbereitungen waren schon nicht mehr ganz so fieberhaft, wie im letzten Jahr - beim inzwischen vierten Rennen bin ich nun doch gelassener. Aber einigermaßen hektisch war es doch, und als ich um 7 Uhr morgens das Flugzeug besteige, bin ich reichlich übernächtigt. Auf meinem Fensterplatz sitzt ein älterer italienischer Herr. "Isch abe keine Problem.", versichert er mit großzügig, als ich ihn darauf anspreche, dass dies mein Platz wäre, und macht keinerlei Anstalten aufzustehen. So verbringe ich den Flug auf dem Mittelplatz, und als der Herr anfängt zu husten, beginnt seine freundliche, aufgeweckte, vielleicht 13 jährige Enkeltochter zu meiner Rechten ein Gespräch mit mir, dem ich dankbar meine volle Aufmerksamkeit schenke.

Durch diese kleine Begegnung bin ich bereits in Italien angekommen, bevor das Flugzeug gelandet ist. Als ich denn auch körperlich ankomme, sehe ich neben den Gepäckbändern im Flughafen diverse leere Fahrradkartons - ich bin nicht der erste. Argos hat die Reise gut überstanden, und während ich ihn zusammen baue, kommen weitere Mitfahrer an. Ich bin froh, dass ich als Erster fertig bin und alleine aufbreche: Die 700 hm und 30 Kilometer möchte ich urgemütlich in meinem eigenen Tempo zurücklegen. Außerdem kann ich so halten, wann ich möchte - und tue es in der ersten netten Bar in Catania, wo ich einen wunderbar konzentrierten Caffè und ein süßes Teilchen bekomme.


Black liquor

Der Bogen mit schwarzem Lavastein - typisch für Catania

In Nicolosi habe ich mir ein Zimmer in dem gleichen B&B gebucht, wo ich letztes Jahr nach dem Rennen war - und bekomme zu meiner Begeisterung sogar das selbe Zimmer, in dem ich mich sofort wieder zu Hause fühle. Ein gutes Omen. Träge ordne ich meine Ausrüstung, packe noch etwas um, aber bald zieht es mich nach draußen. Im Dolce Vita Café neben dem Start treffe ich die ersten bekannten und unbekannten Gesichter. Alle freuen sich, endlich hier zu sein und alle haben eine gewisse Ehrfurcht vor dem, was vor uns liegt, und so bildet sich bereits vor dem Start eine Gemeinschaft.

Am Abend habe ich endlich die Gelegenheit, in Ruhe ein paar Worte mit meinem Freund Christoph zu wechseln. Er ist ein unglaublich starker und erfahrener Radfahrer, und zugleich ein sympathischer, empathischer Mensch, der mir inzwischen eine Art Mentor geworden ist. Eigentlich teilt man seine Strategie nicht mit Mitfahrern, aber im Vertrauen sprechen wir doch darüber, wie wir es angehen wollen. In diesem Jahr wird die Strategie ein großes Thema sein, weil die vorgegebene Strecke voraussichtlich am ersten Abend die Zivilisation in Richtung der Berge verlässt, und es für rund 150 km keine touristische Infrastruktur gibt, in der kalten, dunklen Nacht. Früh in einer Unterkunft nächtigen? Bei dem diesjährigen, historisch engagierten Starterfeld würde man sofort nach hinten durchgereicht. Auf das Glück hoffen, dass es doch nicht so kalt wird, oder man wider Erwarten eine Unterkunft findet? Wenn man sich auf das Glück verlässt, lässt es einen im Stich. Durchfahren? Hätte das Risiko, am Folgetag komplett einzubrechen... Wie man es dreht - es gibt kein Patentrezept. Immerhin hat sich die Wettervorhersage in den letzten Tagen gebessert: Es soll beinahe trocken bleiben. Mein Plan ist, am ersten Tag rund 280 km zu fahren, und dann früh in der Nähe eines Ortes, auf gut 500 m ü. A. zu biwakieren. Dort sollte es noch nicht so klirrend kalt sein. Christoph meint, dass ich bereits am frühen Abend dort sein werde - viel zu früh für die Nacht. Ich ahne dass er Recht hat. Mein Plan B ist ein verlassenes Dorf bei KM 323. Zeitlich würde das besser passen, aber es liegt auf über 800 m ü. A. Da könnte das Biwak schon ungemütlich werden. Schlimmstenfalls also Augen auf und durch. Mir wird bewusst, dass alle Fahrer vor dieser Schwierigkeit stehen, und dass das Rennen vermutlich bewusst so ausgelegt ist: Eine ernsthafte Angelegenheit, wie eine anspruchsvolle Hochtour. Irgendwie mag ich diesen Gedanken, und zusammen mit der Gewissheit, noch ein letztes Mal ausschlafen zu können, lässt er mich bald einschlafen.

Am nächsten Morgen treffe ich, nach dem Frühstück im B&B, Alex. Er ist der Freund einer Fahrradfreundin von mir; sie hat mir von ihm erzählt. Ungewollt taxiere ich ihn. Sie hat ihn als sehr starken Radfahrer beschrieben (und wenn sie das schon sagt...). Passt. Einen Tag vor dem Rennen ist das nicht unbedingt eine Eigenschaft, die jemanden sympathisch macht. Aber meine Fahrradfreundin hat ihn sich aus guten Gründen ausgesucht: Sogar in diesem Umfeld (Langstreckenradler sind alle angenehm), ist er mir überdurchschnittlich sympathisch.  Dass er schnell Rad fährt verzeihe ich ihm, und nehme ihn in den Kreis der Leute auf, denen ich es nicht übel nehmen werde, wenn sie schneller sind als ich.

Nach dem Frühstück gibt es ein paar Dinge zu erledigen: Die Ausrüstung umpacken, ein Paket mit ziviler Kleidung ins Ziel schicken, die Registrierung erledigen, eine richtige Pumpe finden, um den richtigen Reifendruck einzustellen (damit es keinen Platten gibt), ein bisschen Caffè und reichlich Dolci nehmen und das obligatorische "Rider Briefing" am Abend. Kein Müßiggang, aber auch kein Stress. Im Laufe des Tages treffe ich immer mehr Mitfahrer, und meine freudige Anspannung nimmt zu. Beim abendlichen Briefing gibt Juliana (die Organisatorin) noch ein paar letzte Hinweise, alle sind da, es gibt mehr Arancini, als selbst 100 Langstreckenradler vor einem Rennen essen können... Trotzdem brauche ich danach etwas Süßes - und etwas weniger Trubel. Mit Fiona, Alex und ein paar anderen Leuten machen wir noch ein kleines De-Briefing im Dolce Vita Café, quatschen darüber, wie die letzten Tage waren und was jetzt vor uns liegt, und gegen 22 Uhr liege ich schon in meinem Bettchen. Eigentlich nicht meine Zeit, aber Morgen geht der Wecker um 4.20 Uhr, und das ist eben auch nicht meine Zeit... Ich werfe einen letzten Blick auf Argos, der treu und voller Tatendrang am Schreibtisch lehnt - er wird mich nach Ercolano tragen. Als ich das Licht lösche, erwarte ich nicht mehr als ein Ruhen, und bin doch glücklich: Bald schlafe ich ein.

Argos ready to rumble